Nur die Bühne ist zu wenig (I)

Paula Rahm-Roth

Nur die Bühne ist zu wenig (I)

Erzählungen zu den Theaterstücken

„Skandal am Canal“

„Superstars im Hinterhaus“

„Liebe, Mord und Venensalbe“

von Elke Rahm

Alle Personen, Handlungen und Örtlichkeiten, soweit es sich nicht um real existierende Städte handelt, sind frei erfunden. Etwaige Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind zufällig und in keiner Weise beabsichtigt.

Paula Rahm-Roth (Elke Rahm): Nur die Bühne ist zu wenig (I)

2021

Umschlaggestaltung: Elke Rahm

Titelfotos: privat

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliothek, detaillierte bibliografische Angaben sind im Internet über www.dnb.de abrufbar.

Vertrieb Theaterstücke: Plausus Theaterverlag Bonn (www.plausus.de)

ISBN 9783755757979

In Italien ist es ganz anders

1

Mit einem sanften Ruck setzte die Boeing auf der Landebahn des Flughafens von Venedig auf. Sie rollte in Richtung der Gebäude und wurde langsamer. Ein letztes Mal heulten die Triebwerke. Dann stand die Maschine. In der Kabine erloschen die Lichter zum Anschnallen; zeitgleich klickten alle Sicherheitsgurte. Ein hektisches Treiben begann. Es waren überwiegend Touristen, die es nicht erwarten konnten, ihr Handgepäck aus den Ablagefächern zu zerren und sich voller Abenteuerlust in das Treiben in der Lagunenstadt zu stürzen.

Während es im Mittelgang immer enger wurde und der Stau von beiden Ausstiegen zurückreichte, saß eine ältere Frau auf ihrem Platz und bewegte sich nicht. Auf den ersten Blick wirkte sie wie eine Statue. Nur die Schweißperlen auf ihrer Stirn verrieten, dass es sich um einen Menschen handelte. Gerda Eisenbeiß – so hieß die Dame – kämpfte noch immer gegen ihre Flugangst. Ihr Göttergatte hatte bei einem Preisausschreiben mitgemacht und tatsächlich den ersten Preis gewonnen: eine Woche Urlaub in Venedig für zwei Personen mit allem Schnickschnack. Gerda hätte viel lieber den zweiten Preis gehabt, denn mit einer Mikrowelle mit integriertem Dampfgarer liebäugelte sie schon lange. Aber Fortuna tat das, was sie für richtig hielt. Und so hatte sich die Hausfrau in ihr Schicksal gefügt, war am Morgen in den Flieger gestiegen und jetzt in Italien.

Allmählich leerte sich das Flugzeug. Gerda holte tief Luft und stemmte sich mit einer Hand aus dem Sitz. Das war gar nicht so einfach, denn mit der anderen Hand hielt die Frau ihre Tasche fest umklammert. Nicht eine Sekunde während des Fluges hatte sie das dunkelbraune Kunstlederungetüm losgelassen.

Jetzt stand auch Hermann auf. Er zog die Hose bis unter die Brust und angelte aus der Tasche ein beiges Hütchen, das er auf seine verbliebenen Haare stülpte.

„Du siehst voll lustig aus, Opa“, stellte Katrin fest. Die Enkeltochter von Gerda und Hermann war ein kleiner frecher Wirbelwind. Mit ihren großen Kulleraugen und den langen blonden Locken war sie das Abbild eines Engels. Aber in Wirklichkeit hatte es Katrin faustdick hinter den Ohren. Ihre Streiche wurden zu Hause von Mama und Papa meist belächelt oder allenfalls mit einem leichten Stirnrunzeln hingenommen. Oma hingegen machte aus jeder Mücke einen Elefanten und regte sich furchtbar über alles auf. Deshalb war die Kleine überhaupt nicht begeistert gewesen, als Hermann vorschlug, sie mit nach Venedig zu nehmen, um ihr etwas von der Welt zu zeigen. Seit er von seinem Gewinn wusste, hatte er sich auf alle Reiseführer gestürzt, die er in der Stadtbücherei finden konnte. Seine Gattin bezog ihr Wissen über Italien vorwiegend aus Kitschromanen und Kriminalfilmen.

„Du sollst nicht über Opa lachen“, tadelte Gerda ihre Enkeltochter. Endlich hatte sie sich aus dem für sie etwas zu engen Sitz befreit. Katrin grinste und holte ihren Rucksack aus dem Handgepäck, das Hermann mitten in den Gang gestellt hatte.

„Passen Sie doch auf!“ knurrte er unwillig einen jungen Mann an, der über die Gepäckstücke steigen musste.

„Scusi“, murmelte der Mann. Gerda starrte ihn an. Sonnenbrille, schwarzer Maßanzug, glänzende Schuhe. „Vati!“, flüsterte sie so laut, dass es im Umkreis von drei Metern jeder hören konnte. „Vati! Der Mann ist bestimmt von der Mafia!“

„Na und?“ knurrte Hermann. Er kniete auf dem Boden zwischen dem Gepäck und versuchte, einen abgerissenen Griff zu befestigen.

„Mafia“, wiederholte Gerda. „So, wie der geguckt hat, würde es mich nicht wundern, wenn etwas fehlt.“

Nach Luft schnappend, ließ sie sich zurück in den Sitz fallen und öffnete ihre Handtasche. „Geldbeutel, Papiere, Kalender, Taschentücher, Tabletten. Alles noch da.“ Erneut stemmte sich Gerda hoch und kroch umständlich in ihre Jacke. Katrin kam sich wie im Kino vor, als sie ihre Großeltern beobachtete.

„Fertig!“ Mit hochrotem Kopf tauchte Hermann aus der Tiefe auf. „Bis ins Hotel hält der Griff.“

„Katrin, zieh dich an.“

„Ich bin fertig, Oma.“

„Gut. Hermann, hast du alles?“

„Nein.“

„Nein?“

„Nein!“ wiederholte Hermann. „Es fehlt eine Tasche.“

„Das war bestimmt der von der Mafia“, rief Gerda. „Der, der dich vorhin angerempelt hat.“

„Oma“, meldete sich Katrin zu Wort, „Oma, der Mann ist ohne Gepäck ausgestiegen. Das habe ich genau gesehen.“

Gerda blickte die Kleine empört an. „Ich habe dir schon hundertmal gesagt, dass es sich nicht gehört, fremde Leute zu beobachten. Außerdem ist es deine Schuld, dass wir beklaut wurden.“

„Hä? Wieso denn meine Schuld?“

„Oma hat recht“, mischte sich Hermann ein. „Hättest du zum Frühstück nicht vier Brötchen gegessen, wäre dir nicht schlecht geworden.“

„Und während sich Opa um dich gekümmert hat, konnte der Dieb in aller Ruhe unsere Tasche mitnehmen.“

„Wir müssen zur Polizei. Sie da!“ Letzteres galt der hübschen blonden Flugbegleiterin, die damit begonnen hatte, den Abfall unter den Sitzen aufzuheben. Sie war es auch gewesen, die für Katrin gesorgt hatte, als es ihr schlecht geworden war. „Linda“ stand auf dem Namensschild, das sie am Revers trug. Jetzt zwinkerte Linda der Kleinen kumpelhaft zu. „Na, alles wieder in Ordnung?“

Katrin nickte. „Ich…“

„Wo ist die nächste Polizeistation?“ platzte Hermann dazwischen. „Wissen Sie, man hat uns nämlich beklaut!“

„Im Flughafengebäude befindet sich ein Büro der Polizei“, erklärte Linda. „Darf ich fragen, was Ihnen gestohlen wurde?“

„Omas Schlüpfer!“

In Sekundenbruchteilen glich Gerdas Gesicht einem Feuermelder. „Kind“, hauchte sie entsetzt. „Wie kannst du nur…“

„Uns wurde eine Tasche gestohlen“, erklärte Hermann überdeutlich. „Hier. In Ihrem Flugzeug.“

„Was kann man auch im Ausland anderes erwarten?“ Gerda hatte sich von Katrins Bemerkung erholt und lief zu ihrer alten Form auf.

„Natürlich“, murmelte Katrin. „In Italien wird gestohlen, in der Türkei hat jeder ein Messer in der Tasche und die Franzosen trinken den ganzen Tag lang nur Rotwein. Mensch, Oma, lass doch mal diese Vorurteile! In meiner Schule wird ganz sicher mehr geklaut als sonst wo auf der Welt.“

Entsetzt sah Hermann seine Enkeltochter an. „Ich werde mit deiner Mutter reden, dass sie dich auf eine anständige Schule schicken soll.“

„Vati, das hat Zeit“, sagte Gerda. „Im Augenblick haben wir wirklich andere Sorgen.“

Linda öffnete ein Gepäckfach. „Ist das Ihre Tasche?“

Gerda warf einen kurzen Blick auf das altertümliche Teil. „Jaaa“, sagte sie langsam. „Nicht wahr, Vati? Das ist sie. Sag auch mal was dazu!“

Linda ersparte Hermann eine Antwort. „Meine Kollegin hat das Gepäck umgelagert und wohl leider vergessen, Ihnen Bescheid zu sagen.“

„Umgelagert? Was heißt umgelagert?“

„Das heißt, dass wir das Handgepäck der Passagiere gleichmäßig verteilen“, erklärte Linda. „Bitte entschuldigen Sie die Unannehmlichkeiten. Ich wünsche Ihnen einen angenehmen Aufenthalt in Venedig.“ Damit drehte sich Linda um und ging in die Bordküche, um alles für den Rückflug vorzubereiten.

„Besonders freundlich ist die ja nicht gerade“, meckerte Gerda. „Aber das ist auch kein Wunder. So ein armes Ding verdient ja nicht viel bei so einer Billiglohnairline.“

Katrin trat aufgeregt von einem Bein auf das andere. „Können wir endlich mal aussteigen? Oder wollt ihr den Urlaub im Flieger verbringen?“

In der Abfertigungshalle ging es zu wie in einem Bienenstock. Die wütenden Blicke der anderen Fluggäste ignorierend, schob sich Hermann am Gepäckband Schritt für Schritt nach vorn. „Mutti!“ rief er aufgeregt, „Mutti, hier kommen unsere Koffer. Und es sind sogar alle!“

Erschrocken prallte Gerda zurück, als sie aus dem klimatisierten Gebäude in die heiße italienische Sonne trat. Auf einem Platz standen in einer langen Reihe Busse. Sie kramte ihre Brille aus der Tasche und schob sie sich auf die Nase. Kopfschüttelnd studierte sie die Schilder, die an den Bussen angebracht waren. „Das kann kein Mensch lesen. Das ist ja eine völlig andere Sprache als unsere.“

„Oma! Das ist italienisch.“

„Sei still und hör auf, deine Oma ständig zu belehren.“ Hermann setzte das Gepäck ab und sah sich um. Hinter den Bussen standen Taxis.

„Wir fahren mit einem Taxi“, entschied er.

„Haben wir zu viel Geld?“ protestierte Gerda. „Der Urlaub wird schon teuer genug.“

Katrin hatte aufmerksam den Wortwechsel verfolgt. „Ich denke, ihr habt die Reise bei einem Preisausschreiben gewonnen und alles ist für umme?“

„Natürlich“, stimmte Hermann zu. „Für Oma und mich. Der Gewinn ist nur für zwei Personen. Für dich müssen wir extra bezahlen.“

„Warum habt ihr mich überhaupt mitgenommen, wenn es euch zu teuer ist?“ Katrin war sauer.

„Wir finden, du sollst endlich etwas von der Welt kennen lernen“, erklärte Gerda. Ausgerechnet Gerda, die in den letzten vierzig Jahre nicht weiter als bis in den Nachbarort gekommen war.

„Oma, ich war mit meinen Eltern schon in der Dominikanischen Republik, in Schweden und letztes Jahr in Südfrankreich.“

„Egal. Italien ist etwas Besonderes. Und jetzt sei einfach mal ein Weilchen still.“

Hermann ließ seine beiden Frauen stehen und marschierte entschlossen zum ersten Taxi in der Reihe. Der Fahrer blätterte in einer Zeitung. Ungehalten klopfte Hermann an das Fenster. „Tach! Du uns fahren in Hotel ‚Farfalle‘! Capito?” Aus der Hosentasche zog der Senior einen Zettel mit der Adresse und hielt ihn dem Fahrer unter die Nase. Der warf einen kurzen Blick darauf und nickte. „Hotel ‘Farfalle’. Si!”

„Mutti! Katrin! Beeilt euch!“

Langsam erhob sich der Fahrer von seinem Sitz und öffnete den Kofferraum. Mit einer Geste bedeutete er Hermann, das Gepäck hineinzustellen.

Katrin sprang auf den Beifahrersitz.

„Kind, willst du nicht lieber nach hinten kommen zu mir?“ fragte Gerda. Sie versuchte, sich einzurichten und kämpfte mit Sicherheitsgurt, Jacke und Handtasche.

„Nö.“

„Lass das Kind vorn sitzen, Mutti. Da sieht es viel mehr. Fahren Sie heute noch los?“

„Der versteht dich nicht, Vati.“ Gerda beugte sich vor, tippte dem Fahrer auf die Schulter und wedelte mit der Hand. „Avanti!“ rief sie. „Das habe ich in einem Film gesehen“, erklärte sie dem verblüfft dreinschauenden Hermann.

Der Fahrer grinste und gab Gas. Geschickt fädelte er sich in den hupenden Strom der Autos ein und machte sich mit Familie Eisenbeiß auf den Weg ins Hotel „Farfalle“.

2

Das Hotel „Farfalle“ war ein Palazzo aus dem 17. Jahrhundert. Im Laufe seiner Geschichte hatte es verschiedene Besitzer gehabt. Es war hochherrschaftliches Wohnhaus, Umschlagplatz für Schmuggler und Bordell gewesen, ehe es vor vier Jahrzehnten ein mehr windiger als findiger Geschäftsmann zum Hotel umbauen ließ. Eigentlich hätte das Haus mit seiner Spitzenlage direkt an der berühmten Rialto-Brücke eine wahre Goldgrube sein können. Hätte! Denn vom einstigen Glanz des Hauses war nichts mehr übrig. Das gesamte Personal bestand aus Luigi, dem Empfangschef, dem Pagen Francesco und der Köchin Maria. Ihr Espresso war es, der als echter Geheimtipp galt und dem Restaurant wenigstens ein paar mickrige Einnahmen bescherte. Die Hotelzimmer wurden von Zeitschriften als Hauptgewinn bei Preisausschreiben verlost, weil sie zu Schleuderpreisen zu bekommen waren.

Auch an diesem Tag, an dem Familie Eisenbeiß anreisen würde, ging alles seinen gewohnten schläfrigen Gang. Zwar waren drei (drei!!!) Anreisen angekündigt, aber Luigi war sich sicher, dass mindestens zwei der Gäste die Flucht ergreifen und in anderen Hotels absteigen würden. Lediglich das Ehepaar, das seine Reise gewonnen hatte, würde alle Leistungen in Anspruch nehmen. Das war immer so, bedeutete eine Menge Arbeit und kein Trinkgeld. Luigi blinzelte müde. Durch die verstaubten Fenster fiel sein Blick auf die Rialto-Brücke, die trotz der frühen Stunde kaum unter den Touristenmassen zu sehen war. Hinter der großen Palme, die den Empfangsbereich von einigen Bistrotischen trennte, stand Francesco und bohrte in der Nase. In der Küche klapperte Maria mit Geschirr. Luigis Blick wanderte weiter: über die vergilbten Seidentapeten, die abgeplatzten Ecken des Empfangstresens bis zu dem neuen Brandfleck im Teppich. Mit einer Hand seinen Rücken stützend, ließ sich der Mann am Schreibtisch nieder und griff nach dem Automagazin, das aufgeschlagen vor ihm lag. Ein Seufzer. Der galt dem Sportwagen auf Seite drei.

Erschrocken fuhr Luigi zusammen, als das Telefon klingelte. „Hotel ‚Farfalle‘. Buongiorno“, nuschelte der Empfangschef in den Hörer. Sekunden später sprang er auf und stand hinter dem Schreibtisch stramm. Francesco hörte auf, einen Schinkenrest aus seinen Zähnen zu pulen, schob die vertrockneten Wedel der Palme auseinander und schielte neugierig zu seinem Chef. Der hatte inzwischen die Gesichtsfarbe verloren. „Si“, flüsterte er. „Si. Ciao.“ Im Zeitlupentempo legte er den Hörer auf die Gabel. Sekundenlang stand Luigi wie angewurzelt, verzog keine Miene und starrte das Telefon an.

„Chef?“ fragte Francesco leise, „Chef, ist etwas passiert? Ist Ihnen nicht gut?“

Luigi erwachte aus seiner Erstarrung. „Was?“

„Ist Ihnen nicht gut?“ wiederholte Francesco.

„Ricardo Scaloppino!“ Der Name schlug ein wie eine Bombe. Automatisch stand Francesco ebenfalls stramm, die Hände an der Hosennaht. „Nein!“ flüsterte er.

„Doch!“ Luigi nickte.

„Madonna mia! Er kommt hierher? In unser Hotel?“ Insgeheim hoffte Francesco, dass Luigi sich nur einen Spaß mit ihm erlaubte. Aber gleichzeitig wusste er, dass das nicht so war, denn Luigi machte niemals Spaß während der Arbeitszeit.

Allmählich gewann der Empfangschef seine Fassung wieder. „Ja“, sagte er. „Der große Ricardo Scaloppino kommt in unser Hotel.“

„Wann?“

„Das ist ja das Problem.“ Hektisch fuhr sich Luigi mit einem Taschentuch über die Stirn.

„Was für ein Problem?“

Luigi tupfte schneller und stärker. „Niemand weiß, wie Signore Scaloppino aussieht. Er verbirgt seine wahre Identität hinter den verschiedensten Masken. Das macht ihn so gefährlich und unberechenbar.“

„Sie meinen…“

„Genau. Er kann heute ein Mann sein, morgen eine Frau, kann dick sein oder dünn oder was weiß ich!“

„Das habe ich verstanden“, bremste Francesco den Redefluss des Älteren. „Chef, aber ich verstehe nicht, woher Sie wissen, dass Signore Scaloppino kommt. Hat er es Ihnen gesagt?“

„Natürlich nicht“, zischte Luigi, verärgert über so viel Naivität. „Unsereins hat seine Quellen. Wenn man so lange in der Hotelbranche arbeitet wie ich, dann hat man ein geheimes Netz an Informationen gesponnen. Das wirst du noch lernen. Hopp hopp! Stehen wir hier nicht rum, sondern sorgen dafür, dass alles in Ordnung ist. Der Hotelkritiker soll keinen Grund finden, schlecht über uns zu schreiben. Keinen noch so winzigen Grund! Ist das klar?“

Francesco nickte. „Klar wie das Wasser im Canal Grande!“

Die Zeitschriften auf dem Schreibtisch! Die mussten auf jeden Fall verschwinden. Aber wohin? Denn die teuren und heißgeliebten Automagazine wegzuwerfen, kam für Luigi überhaupt nicht in Frage. Die Palme! Der große Blumenkübel schien als Versteck gut geeignet zu sein. „Francesco! Heb die Palme hoch!“

„Warum?“

„Weil ich meine Zeitschriften darunter verstecken will! Signore Scaloppino soll nicht denken, dass ich während der Arbeitszeit lese.“

Der Page bückte sich. Mit seinen dünnen Armen umfasste er den Blumenkübel und schaffte es tatsächlich, ihn ein paar Zentimeter vom Boden zu heben. „Ist! Das! Scheißding! Schwer!“ keuchte er. Luigi schob seine gesammelten Schätze auf Hochglanzpapier darunter. Mit einem Knall ließ Francesco den Blumenkübel fallen.

„Was ist das heutzutage nur für eine schlappe Jugend“, lästerte Luigi. „Keine Kraft, keine Ausdauer. Als ich in deinem Alter war, habe ich die Palmen am Strand mit bloßen Händen aus der Erde gerissen.“

„Da waren die Dinger ja auch gerade erst frisch gepflanzt worden“, konterte Francesco schlagfertig und schlurfte auf seinen Warteplatz. Luigi kritzelte im Reservierungsbuch herum und tat beschäftigt. In der Hotelhalle war es wieder still wie in einer Gruft. Die Minuten tröpfelten dahin wie das Wasser aus dem undichten Hahn in der Küche.

Nervös zuckte Francesco zusammen, als er vor der Tür klappernde Absätze hörte. Eine junge Frau betrat das Hotel.

„Die schon wieder“, murmelte Luigi.

„Kennen Sie die?“ flüsterte Francesco hinter seiner Palme.

„Nein. Ich weiß nur, dass sie Carlotta heißt. Seit ein paar Tagen kommt sie hierher, trinkt einen Espresso und geht.“

Inzwischen hatte die Schönheit an einem kleinen Tisch Platz genommen. Langsam schlug sie die Beine übereinander.

„Francesco”, zischte Luigi. „Starr die Dame nicht so an.“

„Aber Sie sagen immer, dass ich mir ein genaues Bild von den Gästen machen soll.“ Francesco kaute auf seiner Unterlippe und dachte nach. „Vielleicht ist die Dame ja gar keine Dame?“ flüsterte er.

„Sondern?“

„Signore Scaloppino?“

Luigi zuckte zusammen. „Wo?

„Vielleicht ist die Frau Signore Scaloppino. Weil, wenn doch niemand weiß, wie er aussieht.“

„Aber so bestimmt nicht!“ Ärgerlich verpasste Luigi seinem Untergebenen eine Kopfnuss. „Die ist echt. Das kannst du mir glauben.“ Die letzte Bemerkung galt mit einer kleinen Handbewegung Carlottas oberer Körperhälfte. Francesco grinste und ging, um die Bestellung aufzunehmen. „Buongiorno. Was darf ich Ihnen bringen?“

Carlotta bedachte den jungen Mann mit einem langen Blick. Der spürte, wie ihm heiß wurde.

„Einen Espresso“, bestellte die Frau mit dunkler Stimme.

„Einen Espresso. Sehr wohl.“ Linkisch drehte sich der Page um und stolperte mehr, als er lief, in die Küche, um die Bestellung aufzugeben. Carlotta lächelte. Sekunden später war Francesco zurück. Vorsichtig balancierte er eine winzige Tasse und stellte sie leise klirrend auf den Tisch.

„Grazie. Bist du neu hier? Ich habe dich noch nie gesehen.“

„Ich… Urlaub… und…“ stotterte Francesco. Carlotta sah dem jungen Mann lächelnd nach. Dann schlug sie die Tageszeitung auf und tat, als würde sie sich brennend für die langweiligen Meldungen interessieren. Über den Rand der Zeitung hinweg sah sie sich unauffällig in der Hotelhalle um. Ab und zu trank sie einen kleinen Schluck Espresso. Schließlich griff sie in ihre Handtasche, holte einen Geldschein heraus und legte ihn unter die Tasse. Mit zitternden Händen räumte Francesco den Tisch ab. Das Geld steckte er in seine Hosentasche. Luigi hatte das auch diesmal nicht gemerkt.

3

In einem eleganten Bogen glitt ein Wassertaxi an den Anlegeplatz des Hotels. Katrin sprang leichtfüßig aus dem Boot. Ihre Augen glänzten. Die Fahrt war super gewesen, denn Opa hatte wieder einmal für Stimmung gesorgt. Der selbsternannte Fremdenführer Hermann hatte versucht, allen Mitfahrenden die einzelnen Bauwerke zu erklären. Leider verstand ihn niemand. Seine sehr freie Interpretation der italienischen Sprache sorgte bei den Touristen für verständnislose Blicke, während die Einheimischen nicht mehr aus dem Lachen herauskamen. Gerda war empört. „Anstatt deine Fremdenführerqualitäten zu würdigen, machen sich die Leute über dich lustig. So eine Respektlosigkeit gibt es bei uns nicht!“

Wie eine Lawine rollten die drei Gäste heran. Eilfertig sprang Francesco hinter der Palme hervor und riss die Tür auf. Gerda machte keine Anstalten, einzutreten.

„Ich finde es eine Zumutung, dass uns der Taxifahrer am Bahnhof aus dem Auto geworfen hat!“ keifte sie. „Wenn wir wieder zu Hause sind, schreibe ich denen von der Zeitung einen Brief! Die sollen nicht denken, dass sie uns solche Schikanen bei der Anreise zumuten können!“

„Oma, in Venedig gibt es doch keine Straßen“, sagte Katrin „und deshalb auch keine Autos oder Busse. Ab dem Bahnhof geht es nur auf dem Wasser weiter.“

„Hör auf, deine Oma zu belehren“, knurrte Hermann. Er setzte die Koffer ab und griff nach der altertümlichen Digitalkamera, die er um den Hals trug. „Stellt euch auf. Etwas mehr nach links, Katrin. Und lächeln.“ Hermann drückte auf den Auslöser. Klick: Katrin und Gerda vor dem Hotel „Farfalle“. Klick: Gerda allein vor dem Hotel, breit strahlend. Klick: Katrin mit einem Gesicht wie sieben Tage Regenwetter. Hermann legte an der Kamera einen kleinen Hebel um. „Mutti, du trägst bitte das Gepäck“, wies er Gerda an. „Ich filme jetzt!“

„Katrin, komm mal her!“ Gerda zog ein Taschentuch aus ihrer Jacke und tupfte ihrer Enkeltochter am Mund herum. Die schüttelte sich. „Oma, das ist voll eklig!“

„Halt still! Wir wollen doch ordentlich in Opas Film aussehen!“ Endlich hatte Gerda ihre Säuberungsaktion beendet und nahm das Gepäck auf.

Hermann stand bereit. „Fertig?“ fragte er.

„Fertig!“

„Unser erster Tag in Venedig“, kommentierte der Filmemacher laut. „Wir betreten unser Hotel, das Hotel ‚Farfalle‘.“

„Aua!“

Hermann ließ die Kamera sinken. Irritiert starrte er Francesco an, der noch immer die Tür aufhielt und dabei das Gesicht schmerzhaft verzog. „Habe ich Sie etwa getreten? Warum stehen Sie denn auch mitten im Weg?“ Plötzlich fiel ihm ein, dass ihn Francesco ja gar nicht verstehen konnte. „Da!“ brüllte Hermann und deutete auf Francescos Fuß. „Da! Bumm! Bumm!“ Das schien der junge Mann verstanden zu haben, denn er nickte.

„Selbst schuld“, stellte Hermann fest. Kurz entschlossen drückte er dem Pagen seine Kamera in die Hand. „Mach dich nützlich“, sagte er. „Filmen! Uns! Alle! FIL-MEN! Verstehen?“

Gerda blieb beinahe das Herz stehen. „Aber Hermann“, hauchte sie. „du kannst doch so einem nicht deine teure Kamera geben. Was ist, wenn er damit verschwindet?“

„Keine Angst, ich habe alles unter Kontrolle.“ Hermann stellte sich in Positur und legte die Arme um Gerda und Katrin. Wie ein Honigkuchenpferd strahlte er in die Kamera. „Jetzt sind wir im Hotel“, erklärte er den Zuschauern. „Wir sind gut angekommen. Der Flug war nett.“

„Nett ist die kleine Schwester von scheiße“, murmelte Katrin. Francescos Mundwinkel zuckten verdächtig.

Der Kameramann/Regisseur/Kommentator fuhr in seiner Moderation unbeirrt fort. „Ich bin stolz auf Mutti, dass es ihr im Flieger nicht schlecht geworden ist.“

„Aber ich habe in den Gang gekotzt!“ rief Katrin.

Gerda ließ das Gepäck fallen und schlug entsetzt die Hände vor den Mund. „Kind! Kannst du das nicht etwas anders ausdrücken?“

„Wenn es doch stimmt“, verteidigte sich die Kleine.

„Das musst du rausschneiden, Vati“, sagte Gerda. „Unsere Freunde und Bekannten sollen schließlich ein schönes Video sehen.“

„Das wird kein Video, Oma“, wusste Katrin es besser. „Das wird eine DVD. Aufgenommen mit Opas Digitalkamera. Nicht wahr, Opa?“

Opa nickte stolz. „Ja. Ich merke, du hast gut aufgepasst, als ich dir den Unterschied zwischen Video und DVD erklärt habe.“

„Unsere Kleine ist wirklich ein sehr schlaues Mädchen.“ Nur mit Mühe hielt Gerda eine Träne der Rührung zurück. Hermann löste sich aus der Gruppe. Energisch nahm er Francesco die Kamera aus der Hand. „So, das genügt. Jetzt gib mal wieder schön meine Kamera her. Nicht, dass du am Ende wirklich noch dein und mein verwechselst.“

Der Page schaltete das Gerät aus und reichte grinsend Hermann das gute Stück. „Dein oder nicht dein“, deklamierte er dabei Hamlets berühmte Worte leicht abgewandelt.

„Sie sprechen ja deutsch“, sagte Katrin begeistert.

„Ja. Meine Großeltern leben an der Ostsee. Bei ihnen habe ich früher immer meine Ferien verbracht und dabei die Sprache gelernt.“

„Cool.“

Hermann und Gerda hatten von der kurzen Unterhaltung nichts mitbekommen. Hermann holte aus seiner Hosentasche eine Münze und drückte sie Francesco in die Hand. „Trinkgeld für dich. Hundert Lire. Verstehen?“

Francesco nickte. Unter größter Anstrengung gelang es ihm, ernst zu bleiben, wenngleich er auch nicht verhindern konnte, dass ihm Lachtränen in die Augen stiegen.

„Der Junge weint“, flüsterte Gerda. „Der ist ganz gerührt von deiner Großzügigkeit.“

Katrin hielt es nicht mehr aus. „Opa“, kicherte sie. „Opa, die haben hier Euro.“

„Was?“ Verwirrt drehte sich Hermann um.

„In Italien wird auch mit Euro bezahlt“, erklärte Katrin glucksend.

Gerda sah die Kleine streng an. „Ich habe dir schon mehrmals gesagt, dass du Opa nicht ständig verbessern sollst. Das tut ein anständiges Kind nicht.“

„Aber wenn es doch stimmt!“ Die Klugscheißerin ließ sich nicht unterkriegen.

„Ob es stimmt oder nicht, das ist völlig nebensächlich“, mischte sich Hermann ein. „Geld braucht man immer. Besonders ein junger Mann!“

Unerwartet legte er seiner Gerda den Arm um die Schultern. „Das Geld war von unserem ersten Urlaub in Italien übrig.“

Gerda war beeindruckt. „Du hast gar nicht alles ausgegeben?“

„Nein“, sagte Hermann stolz. „Das brauchte ich nicht. Damals war ja alles noch billiger. Weißt du noch, wie schön es war?“ Plötzlich schwang in Hermanns Stimme ein Hauch Romantik mit. „Nur wir beide am Lago Mattschore. Bei Mondschein, Rotwein und Musik aus dem Autoradio. Wie hieß doch gleich noch mal das Lied, das wir immer gehört haben?“

„‚Rote Lippen soll man küssen‘“, hauchte Gerda. „Mir kommt es vor, als sei das alles erst gestern gewesen.“

„Und dabei ist es Jahrzehnte her.“

Luigi hatte die Szene schweigend verfolgt. Jetzt schlug er mit einem lauten Knall das Reservierungsbuch zu und kam hinter dem Empfangstresen hervor.

„Buongiorno! Benvenuti a Venezia!”

Schweigen. Hermann bereitete seine Kamera auf das nächste filmische Ereignis vor. Katrin spiegelte sich im Fenster und schnitt Grimassen. Gerda hingegen starrte den Empfangschef mit einer Mischung aus Abscheu und Empörung an. Luigi überlegt, ob er etwas Falsches gesagt hatte. „Benvenuti a Venezia!“ wiederholte er schließlich die Begrüßung.

„Nein!“ giftete Gerda. „Mein Mann ist verheiratet und braucht keine Nutti! Auch nicht im Urlaub!“

Francesco biss sich in die Faust und huschte hinter seine Palme. „Bitte verzeihen Sie Bemerkung“, radebrechte Luigi auf Deutsch. „Herzlich willkommen in Venezia!“

Wenn alle gedacht hatten, dass jetzt alles in Ordnung sei, so hatten sie sich geirrt. Gerda war in Fahrt und nicht so leicht zu bremsen.  „Venezia?“ fragte sie. „Was heißt denn hier Venezia? Wir wollen nach Venedig!“

„Oma…“

„Das ist deine Schuld, Hermann!“

„Warum ist das meine Schuld?“

Gerdas Gesicht glich inzwischen einer überreifen Tomate. „Du wolltest unbedingt mit einem komischen Wassertaxi fahren. Und dieser hinterlistige Fahrer hat uns in einem Vorort abgesetzt. Deshalb war die Fahrt auch so lang. Ve-ne-zi-a! Wie sich das schon anhört!”

Katrin hielt es nicht mehr aus. „Oma!“ prustete sie, „Oma, wir sind in Venedig. Venezia heißt das auf Italienisch!“

Gerda verkniff es sich, ihre Enkeltochter wegen ihrer erneuten Besserwisserei zurechtzuweisen. Stattdessen öffnete sie langsam ihre Handtasche, holte ein Taschentuch hervor und putzte sich umständlich die Nase. Hermann tat, als sei er mit seiner Kamera beschäftigt. Luigi starrte angestrengt in das Reservierungsbuch. Der Page dagegen hielt sich hinter der Palme ungeniert den Bauch vor Lachen. Gerdas Verlegenheit verflog so rasch wie sie gekommen war. Mit einem aggressiv klingenden Ratschen zog sie den Reißverschluss ihrer Handtasche zu. Dann richtete sie sich zu voller Größe auf.

„Wir sind Familie Eisenbeiß“, erklärte sie. Dabei fiel ihr ein, dass dieser in ihren Augen ja nicht gerade mit Klugheit ausgestattete Portier kaum deutsch sprach.

„Fa-mi-li-e Ei-sen-beiß“, artikulierte die Rentnerin, wobei sie die Worte mit dem Mund überdeutlich formte. Francesco konnte es sich nicht verkneifen, Gerda nachzuahmen. Seine Mundbewegungen erinnerten an einen nach Luft schnappenden Fisch.

„Wir haben Reise gewonnen“, erklärte Gerda. „Ge-won-nen! Bei Preis-aus-schrei-ben! In Zei-tung!“ Gerdas Finger zeigte auf Hermann. „Das mein Mann. Mann! Das Katrin. Bambi!“

„Bambina“, zischte Katrin durch die Zähne. „Es heißt Bambina!“

„Darüber reden wir noch“, zischte Gerda zurück.

Hermann kümmerte sich nicht um Gattin und Enkeltochter. Er schwenkte seine Kamera von rechts nach links und von links nach rechts, um wirklich jedes noch so unwichtige Detail der Hotelhalle aufs Bild zu bekommen.

„Unser Hotel von innen“, kommentierte er. „Mutti, sag mal was!“

„Unser Hotel“, echote Gerda. Luigi stand abwartend daneben. „Jetzt du uns zeigen Zimmer. ZIM-MER! Verstehen?“

Luigi biss sich auf die Lippen. „Si“, krächzte er.

„Natürlich Sie.“ Über so viel Dummheit konnte Gerda nur den Kopf schütteln. „Denken Sie etwa, ich lasse mich von einem fremden Mann duzen?“

Luigi öffnete den Mund, um etwas zu sagen. In letzter Minute verkniff er sich eine Bemerkung und überlegte, wie er die komische Situation entschärfen konnte, ohne Familie Eisenbeiß noch lächerlicher zu machen, als sie es ohnehin schon selbst tat. Mühsam kratzte er all seine in den langen Jahren in der Hotelbranche erworbene Professionalität zusammen.

„Noch einmal herzlich willkommen im Hotel ‚Farfalle‘, Familie Eisenbeiß. Sie haben die Leonardo-Suite. Page!“

Francesco schielte um die Palme. „Hä?“

„Bring das Gepäck der Herrschaften in die Leonardo-Suite. Avanti!“

Nicht besonders schnell schlurfte Francesco um die Palme herum und griff nach dem ersten Koffer. Ächzend hob er ihn hoch und wuchtete ihn auf die Treppe.

Katrin zupfte Gerda an der Jacke. „Oma, ich muss mal“, sagte sie leise.

„Dringend?“

„Ja.“

„Ist ein Klo im Zimmer?“

„Alle Zimmer sind mit Bad ausgestattet“, antwortete Luigi pikiert.

Gerda schüttelte die grauen Locken. „Danach habe ich nicht gefragt, guter Mann“, stellte sie richtig. „Ich wollte wissen, ob es ein Klo gibt. TOI-LET-TE!“

„Selbstverständlich befindet sich die Toilette im Zimmer.“ Jetzt hatte Luigi die Nase voll. Demonstrativ schlug er eine Seite in seinem Reservierungsbuch um und tat, als wäre er mit den Eintragungen beschäftigt. Francesco kam, um den zweiten Koffer und die Tasche zu holen.

Gerda ließ nicht locker. „Mit Wasserspülung?“

„Das sollte hier in Venedig wohl kein Problem sein“, dröhnte Hermann. Gerda schüttelte den Kopf. Sie legte Katrin den Arm um die Schultern und führte sie zur Treppe. Ihr Göttergatte lief rückwärts vor ihnen her, die Kamera auf die Beiden gerichtet. Francesco war unter dem Gepäck völlig verschwunden. Es sah aus, als würden Koffer und Taschen allein die Treppe hinaufwandern. Erleichtert seufzte Luigi, als das Quartett auf dem ersten Absatz verschwand. „Wie soll ich nur diese Woche überstehen?“ murmelte er.

Keine zwei Minuten später polterte Francesco die Treppe herunter. So lief er nur, wenn er wütend war. Die Erklärung ließ nicht lange auf sich warten.

„Geizkragen!“ schimpfte der Page.

„Francesco!“ mahnte sein Chef. „Du weißt, dass man nicht so über Gäste redet. Zumindest nicht in dieser Lautstärke!“

„Der IST geizig! Als ich mit dem Gepäck im Zimmer war, hat mir der Alte gezeigt, wo ich es hinstellen soll. Und er hat gesagt, dass ich kein Trinkgeld kriege, weil ich ja vorhin schon hundert Lire bekommen habe. Ein junger Mann wie ich müsse lernen, mit Geld verantwortungsbewusst umzugehen.“

„Also wirklich“, empörte sich jetzt auch Luigi. „Solche Gäste sieht man am liebsten, wenn sie gehen.“

„Aber das war ja noch nicht einmal der Hammer. Der kommt erst noch. Zum Dank für die Kofferschlepperei hat mir der Alte angeboten, dass ich mit aufs Urlaubsvideo darf. Der soll bloß noch einmal etwas von mir wollen!“

„Dann wirst du ihm diesen Wunsch erfüllen“, sagte Luigi streng. „Denk immer daran, dass der Gast König ist, ganz gleich, wie er sich benimmt.“

In der nächsten Stunde passierte gar nichts. Im Laufe der Zeit hatte er die Fähigkeit entwickelt, wie ein Pferd im Stehen zu dösen ohne dabei umzufallen. Luigi schlummerte im Sitzen, das Kinn auf der Brust, Maria duselte in der Küche vor sich hin. Deshalb bemerkte auch niemand das Wassertaxi (immerhin schon das zweite an diesem Tag), das vor dem Hotel hielt. Ein schlanker Mann stieg aus, nahm eine Reisetasche und betrat die Halle. Dem Äußeren nach zu urteilen war er kein Tourist, denn er trug weder Shorts noch Sandalen. Der Gast war in einen eleganten schwarzen Anzug gekleidet, trug ein makelloses weißes Hemd und eine Sonnenbrille von einem bekannten Designer, wie unschwer an dem Schriftzug an den Brillenbügeln zu erkennen war.

Francesco räusperte sich diskret. Zweimal. Das war das Zeichen für Luigi, aufzuwachen. Der Neuankömmling steuerte einen kleinen Tisch an, deponierte seine Tasche darunter und setzte sich.  Auf den Tisch legte er ein in Leder gebundenes Heft und einen Stift. Sorgfältig schraubte er die Kappe von einem Füllfederhalter, holte ein paar Mal Schwung in der Luft und notierte etwas.

Familie Eisenbeiß hatte dafür gesorgt, dass die Angst vor dem Hotelkritiker kurz in den Hintergrund geraten war. Jetzt war sie wieder da und packte Luigi. Francesco schob vorsichtig die Palmwedel auseinander und blickte seinen Chef fragen an. „Scaloppino?“ formte er lautlos mit den Lippen.

„Ich weiß es nicht“, flüsterte Luigi. „Geh und frag ihn, ob er etwas trinken möchte.“

Francesco zupfte einen imaginären Fussel von seinem Ärmel, straffte die Schultern und trat neben den Tisch. Er verbeugte sich und fragte in seiner Muttersprache: „Darf ich Ihnen eine Erfrischung bringen?“

Der Fremde sah von seiner Schreiberei auf und zuckte bedauernd die Schultern.

„Darf ich Ihnen eine Erfrischung bringen?“ versuchte es Francesco auf Deutsch.

Diesmal nickte der Gast. „Ja. Einen Tee bitte. Kamille.“

Der Page schlug die Absätze zusammen. Das hatte er mal in einem alten Film gesehen. Er fand es zwar doof, hatte aber begriffen, dass die Hotelgäste und besonders die Deutschen diese Respektbezeugung sehr schätzten und deshalb das Trinkgeld manchmal höher war als üblich.

„Sehr wohl. Tee. Kamille. Kommt sofort.“

Francesco flitzte zu Luigi. „Er ist es.“

„Bist du sicher?“ Luigi spürte, wie es in seiner Herzgegend verdächtig zu stechen begann.

„Ja“, sagte Francesco. „Er hat am Handgelenk eine kleine Tätowierung. RS. Und er gibt sich als Deutscher aus.”

„Madonna mia! Jetzt darf nichts schiefgehen, hörst du? Nicht das Geringste.“

„Bitte schön, Ihr Tee.“ Vorsichtig stellte der Page alles auf den Tisch. Dann goss er die gelbliche, dampfende Flüssigkeit ein. Mit einem Auge schielte er auf die Tasse, mit dem anderen Auge versuchte er, etwas von dem Geschriebenen zu erkennen.

„Danke“, sagte der Gast. Demonstrativ schlug er sein Notizbuch zu. Francesco trollte sich zu Luigi.

„Hast du etwas lesen können?“ fragte der.

„Nö. Nur das Wort Sauberkeit.“

„Sauberkeit! Madonna mia! Das genügt.“

Der vermeintliche Scaloppino kümmerte sich nicht um den nervösen Luigi und den blass gewordenen Francesco. Er trank seinen Tee und schrieb ab und zu etwas. Neugierig sah er auf, als auf der Treppe Schritte laut wurden. Es war Familie Eisenbeiß, und so wie die drei aussahen, waren sie auf dem Weg zu einer ersten Stadtbesichtigung.

4

Katrin und Gerda trugen lila Stiefel, Gummimäntel und die dazu passenden Regenhüte: Katrin einen gelben mit blauen Punkten, Gerda einen blauen mit gelben Streifen. Mit ihrem Outfit hätten Oma und Enkeltochter jederzeit auf einem Walfänger im Nordatlantik anheuern können. Auch Hermann hatte nicht auf Gummistiefel und Gummijacke verzichtet. Beides in hellgrün! In der Hand trug er einen riesigen Schirm, den er wie einen Speer hielt.

Katrin klammerte sich mit der linken Hand am Treppengeländer fest. „Ich gehe so nicht auf die Straße“, heulte sie mit der Lautstärke einer Sirene. „Ich sehe voll bescheuert aus.“

Mit einem energischen Ruck löste Gerda die Kinderhand von dem abgeschabten Holz. „Unsinn“, sagte sie. „Du siehst niedlich aus.“

„Ich will nicht niedlich aussehen“, plärrte Katrin und krallte sich mit der anderen Hand fest.

Hermann richtete seine Kamera auf seine Enkeltochter. „Lächeln“, befahl er. „Lächeln! Oma hat recht. Du siehst sehr hübsch aus.“

„Ich geh aber trotzdem nicht so auf die Straße.“ Die Kleine war fest entschlossen, das Treppengeländer nie wieder loszulassen. Wenn es sein musste, die ganze Woche bis zur Abreise!

Francesco schielte hinter seiner Palme nach oben. Grinsend beobachtete er die Szene. „Zwei Minuten“, flüsterte er Luigi zu. „Dann gibt Katrin auf.“

„Nein“, hielt Luigi dagegen. „Die ist hartnäckig. Ich sage fünf Minuten. Fünf Euro?“

„Einverstanden.“ Francesco ging auf die Wette ein. Einträchtig standen Empfangschef und Page nebeneinander und harrten voller Spannung der weiteren Entwicklung der Familienszene.

Hermann war inzwischen dazu übergegangen, das Kind von der Notwendigkeit der Regenkleidung mit unschlagbaren Argumenten zu überzeugen.

„Katrin, willst du nass werden, dir einen Schnupfen holen und den restlichen Urlaub im Bett verbringen?“ fragte er.

„Ja“, schniefte die und fuhr sich mit der freien Hand unter der Nase entlang. Der Handrücken glänzte. „Guck raus, Opa! Draußen scheint die Sonne. Nicht die kleinste Regenwolke ist zu sehen.“

Francesco schielte auf die Uhr. Noch zwei Minuten, um die Wette zu gewinnen.

„Mutti, sag doch auch mal was!“

„Katrin, hör mit diesem Theater auf! Wir tragen Regenkleidung, weil wir in einer Stadt sind, die fast nur aus Wasser besteht.“

„Schon klar, Oma. Und wenn wir jetzt nicht in Venedig wären, sondern in – sagen wir mal – Paris, würde Opa dann…“

„KATRIN!“

Noch eine Minute! Francesco beschloss, die Angelegenheit zu seinen Gunsten zu verkürzen. Er schnappte sich einen Zimmerschlüssel vom Brett. „Ich sehe nach, ob das Zimmer für diesen Reporter fertig ist“, erklärte er scheinheilig.

Familie Eisenbeiß blockierte den kompletten Treppenabsatz. Francesco drückte sich flach an der Wand vorbei.

„Cooles Outfit“, sagte er beiläufig zu Katrin. Augenblicklich versiegten die Tränen.

„Echt?“

„Total cool“, bestätigte der Page.

Katrin ließ das Geländer los und zog ihren Mantel zurecht. Dann marschierte sie entschlossen die Treppe hinunter. „Vier Minuten!“ rief Francesco seinem Wettgegner zu.

Die Großeltern waren Katrin gefolgt und standen nun mitten in der Halle.

„Sie möchten sich unsere Stadt ansehen?“ fragte Luigi zuvorkommend.

„Ja. Es wird Zeit, dass das Kind etwas Kultur zu sehen kriegt. Immer nur Pomm Donald oder wie das heißt ist ja auch nichts.“

„Genau“, pflichtete Hermann seinem Eheweib bei. „Katrin muss etwas lernen. Noch dazu, wo uns diese Ausflüge nichts kosten. Die sind nämlich in unserem Gewinn mit drin.“

„Ich verstehe.“

„Außer für Katrin. Der Gewinn war ja leider nur für zwei Personen. Nicht wahr, Hermann?“ Gerda konnte einfach nicht anders, als sich mindestens einmal am Tag über die Tatsache aufzuregen, dass sie für Katrin zuzahlen mussten.

Hermann antwortete nicht. Wie paralysiert starrte er auf die Eingangstür. Eben hatte Carlotta das Hotel betreten.

„Hermann!“ Gerdas schneidende Stimme holte ihn zurück in die Wirklichkeit.

„Ja, Mutti?“

„Stimmt es?“

„Ja.“ Hermann hatte keine Ahnung, was stimmen sollte oder nicht, aber wenn Gerda diese Zornesfalte auf der Stirn hatte, war Vorsicht geboten. „Du hast recht“, schickte er noch zur Beschwichtigung hinterher. Aus der Jackentasche holte er seine extra für diese Reise angeschaffte Sonnenbrille und schob sie sich auf die Nase. Perfekt! Jetzt konnte er in aller Ruhe einen Blick auf die Italienerin werfen. Die saß an ihrem Lieblingstisch.

„Ich glaube, ich muss noch mal aufs Klo“, teilte Gerda lautstark ihrer Umgebung mit. „Katrin, du auch?“

„Nö!“

„Halt das!“ Gerda zog ihre Regenjacke aus und drückte sie Hermann zusammen mit ihrer Tasche in die Hand. „Ich bin gleich wieder da. Katrin?“

„Nö, Oma. Immer noch nicht.“

Hermann sah seiner Angetrauten nach, wie sie hinter der mit einer aufklebten Frau verunzierten Tür verschwand. Sein Blick fiel auf die gerahmten Stadtansichten, die in an den Wänden hingen. Mit Kennerblick betrachtete Hermann die Bilder, eins nach dem anderen. Und mit jedem pirschte er sich näher an Carlottas Tisch – ein Jäger, der Wild aufgespürt hat. Katrin malte mit der Schuhspitze die Brandflecke im Teppich nach. Carlotta blätterte in der Zeitung. Fragend sah sie Hermann an, der plötzlich vor ihr stand.

„Guten Tag“, grüßte der mit einem breiten Lächeln. Ganz Kavalier der alten Schule wollte er vor der jungen Frau den Hut ziehen. Zu blöd war nur, dass er in jeder Hand etwas von Gerdas Krempel hielt. Kurzentschlossen legte er Regenjacke und Tasche auf Carlottas Tisch. Die Espressotasse schwankte gefährlich. „Ist nur für einen Moment“. Dann zog er, wie geplant, seinen Hut und verbeugte sich leicht. „Sind Sie auch zum ersten Mal in Venedig?“

Carlotta belächelte den erbärmlichen Flirtversuch. Plötzlich schlug Hermanns Herz bis zum Hals. „Ich habe alles über Venedig gelesen“, kiekste er mit unnatürlich hoher Stimme. „Wenn Sie möchten, können Sie mit uns die Stadt besichtigen. Ich kenne mich hier bestens aus.“

In Gedanken war der Senior schon einen großen Schritt weiter. Er sah sich in einer Gondel über den nächtlichen Canal Grande gleiten. Der Gondoliere sang ein romantisches Lied, während die junge Frau ihn, Hermann (nicht den Gondoliere!) schmachtend anhimmelte. Über ihnen das endlose Sternenzelt. Und dann würde er der Schönen…

„Opa!“ quäkte Katrin. Hermann plumpste von seiner Traumwolke unsanft auf den Boden zurück. „Opa, mir ist langweilig!“

„Kind, stör mich jetzt nicht“, knurrte der als Opa Titulierte, der es gar nicht schätzte, dass Katrin diese Anrede ausgerechnet jetzt benutzte. „Du siehst doch, dass ich mich unterhalte. Und wenn sich Erwachsene unterhalten…“

„… haben Kinder Sendepause“, vervollständigte Katrin die Regel.

„Richtig.“

„Das gilt jetzt nicht“, stellte das kleine Schlitzohr fest. „Das gilt nur für unterhalten. Du unterhältst dich aber nicht. Du baggerst. Opa!“

„Katrin! Ich…“

„Doch, du baggerst! Weißt du was, Opa? Wenn ich Oma nichts davon erzählen soll, dann kostet das ein Eis. Ein großes.“

Hermann schnappte nach Luft. „Du kleine Erpresserin“, zischte er.

Katrin lächelte, als könne sie kein Wässerchen trüben. „Oma!“ rief sie, als sie Gerda sah, „Oma, ich krieg ein Eis.“

„Eis? Was für Eis?“ Gerda griff nach ihrer Jacke und begann umständlich, die beim Ausziehen verdrehten Ärmel zu sortieren.

„Das Eis, das Opa mir versprochen hat.“  

„Wer weiß, was die hier für eine Kugel verlangen“, gab Gerda zu bedenken. „Die Ilse, also die Ilse hat gesagt, dass hier alles sehr teuer ist. Ich kaufe dir ein großes Eis, wenn wir wieder zu Hause sind.“

„Nun gönn dem Kind doch das Eis, Mutti“, sagte Hermann. „Schließlich sind wir im Urlaub, und da darf man ruhig mal über die Stränge schlagen.“

Gerda winkte ab, was so viel bedeutete, dass sie nachgab. Sie zog den Reißverschluss ihrer Jacke bis unters Kinn. Dabei fiel ihr Blick auf den Mann im schwarzen Anzug. Bisher schien er Familie Eisenbeiß noch gar nicht wahrgenommen zu haben, so sehr war er in seine Schreiberei vertieft.

Gerda schob den Riemen ihrer Handtasche auf die Schulter und marschierte zu Luigi.

„Sagen Sie mal“, flüsterte sie, „dieser Mann da – ist das ein Schriftsteller?“

Luigi schüttelte den Kopf. „No.“ Dabei zog er ein Gesicht wie jemand, der in ein faules Ei gebissen hat. „No. Keine Schriftesteller! Viel schlimmer!“

Gerda stockte der Atem. Mühsam brachte sie nur ein einziges Wort hervor: „Mafia?“

„Pscht!“ Luigi wehrte erschrocken ab. „Sagen Sie dieses Wort niemals in der Öffentlichkeit, Signora Eisenbeiß.“ Er setzte sein professionelles Lächeln auf, straffte die Schultern und sagte laut und betont: „Ich wünsche Ihnen einen angenehmen Ausflug, verehrte Familie Eisenbeiß.“

Bei dem Namen Eisenbeiß hob der Mann den Kopf. Er legte den Stift aus der Hand und stand auf. Langsam kam er auf Gerda und Hermann zu. Gerda spürte, wie Angst ihr die Kehle zuschnürte. Sie tat sie etwas, was sie seit Jahren nicht mehr getan hatte: Sie schob ihre Hand schutzsuchend in Hermanns Pranke. „Hilfe“, hauchte sie.

Der mysteriöse Mann stand inzwischen so nah vor ihr, dass sie jede Bartstoppel in seinem Gesicht erkennen konnte.

„Familie Eisenbeiß?“ fragte der Mann.

„Ja.“ Hermann war kaum zu verstehen.

Der Fremde lächelte. „Ich freue mich, dass Sie gut angekommen sind“, sagte er in tadellosem Deutsch. „Wenn Sie etwas zu beanstanden oder einen Wunsch haben, dann sagen Sie es bitte.“

„Ich will endlich mein Eis!“ rief Katrin.

„Das wirst du sicherlich bekommen“, sagte der Mann. „Ich wünsche Ihnen eine schöne Woche in Venedig.“

„Woher weiß der, dass wir eine Woche in Venedig sind?“ raunte Hermann, als er Gerda und Katrin sanft zum Ausgang schob.

„Ich sage nur: Mafia“, flüsterte Gerda. „Die weiß alles.“

Hermann nahm die Kamera vom Hals, schaltete sie ein und richtete sie auf seine Familie. „Mutti! Katrin! Ich filme jetzt, wie wir zu unserem ersten Stadtbummel aufbrechen.“

Die Eingangstür quietschte. Hermann dirigierte Gerda und Katrin vor dem Hotel hin und her, um eine geeignete Aufnahmeposition zu finden. Durch die Glasscheibe beobachtete Francesco, wie Katrin ihren Regenhut abnahm und ihn hinter Gerdas Rücken in einen Mülleimer stopfte. Dann ging er zu dem Mann, der noch immer oder schon wieder schrieb. Die Tasse war leer. Francesco räusperte sich. „Darf ich Ihnen noch einen Tee servieren?“ fragte er.

„Nein.“ Der Mann steckte den Stift in das Notizbuch und alles zusammen in seine Jackentasche. „Bringen Sie mein Gepäck auf mein Zimmer.“

„Wir haben die Medici-Suite für Sie vorbereitet“, rief Luigi stolz.

Francesco stellte den Koffer wieder ab. „Ich denke, die Medici-Suite ist für diesen Reporter reserviert?“

„Francesco! Stell nicht so viele Fragen, sondern beeile dich! Wir wollen unseren wichtigen Gast nicht unnötig warten lassen oder verärgern.“

Der Mann runzelte die Stirn. Für einen Moment sah es aus, als ob er etwas sagen wollte. Langsam ging er die Treppe nach oben. Francesco folgte ihm mit dem Koffer. Als er an Luigi vorüberging, hielt der ihn am Ärmel fest.

„Mach nicht so ein Theater wegen der Suite“, sagte er leise. „Wenn dieser Reporter kommt, geben wir ihm ein Doppelzimmer nach hinten. Das ist fast so groß wie eine Suite und sehr ruhig.“

„Na gut“, murmelte Francesco. „Sie werden wissen, was Sie tun, Chef.“ Denn ruhig nach hinten hieß in diesem Fall: Blick in den sonnenscheinlosen Hinterhof mit seinen Mülltonnen und dem Geruch von abgestandenem Wasser.

Als oben die Zimmertür ins Schloss fiel, atmete Luigi auf. Aus dem Reservierungsbuch holte er das Automagazin, schlug die zuletzt gelesene Seite auf und vertiefte sich in den Artikel über den neuesten Sportwagen. „Tss, tss, tss.“ Eben hatte er den Preis für den Wagen entdeckt. Dafür bekäme er schon ein kleines Haus in den Bergen. Kopfschüttelnd las er weiter und überhörte den Gruß des Mannes, der vor dem Empfangstresen stand.

„Buongiorno“, wiederholte der Neuankömmling seinen Gruß.

Luigi sah kurz auf. „Warten Sie, bis Sie dran sind“, knurrte er. „Sehen Sie nicht, dass ich beschäftigt bin?“

Der Mann ließ sich nicht entmutigen. „Ich habe reserviert“, sagte er.

„Zimmer vier. Nach hinten.“ Luigi griff nach dem Schlüssel hinter sich und warf ihn auf den Tresen.

„Sie wissen doch gar nicht, wer ich bin“, sagte der Gast verblüfft. „Ich kann mich nicht erinnern, Ihnen meinen Namen genannt zu haben.“

Genervt schlug Luigi das Magazin zu. „Sie brauchen mir auch nicht zu sagen, wer Sie sind. Wir haben heute nur noch eine Anreise, und das sind Sie.“

„Dann ist ja alles in Ordnung.“ Der Mann zeigte auf seine Tasche. „Kann die jemand auf mein Zimmer bringen?“

„Natürlich. Page! Zimmer vier“, sagte Luigi.

Francesco nickte. „Madonna mia! Ist das ein stressiger Tag!“

Zum Durchatmen blieb keine Zeit. „RS“ kam, setzte sich an den gleichen Tisch wie zuvor und bestellte erneut einen Kamillentee.

Das leichte Beben seiner Hände verriet, wie nervös der Empfangschef war, als er das Gewünschte servierte. Luigi wollte etwas sagen, als ihn Stimmen vor der Tür ablenkten.

Gerda machte ein noch verkniffeneres Gesicht als sonst (erstaunlich, dass das überhaupt möglich war) und zerrte Katrin hinter sich her. Die Augen der Kleinen waren gerötet. Hermann trug in der Hand ein zusammengeknülltes Etwas. Aber das erstaunlichste war, dass er nicht filmte! Die Kamera baumelte um seinen Hals und war aus.

„Die Stadt ist total doof“, maulte Katrin. „Es gibt ja wirklich überall nur Wasser.“

„Aber Katrin“, sagte Hermann in schönstem Oberlehrerton, „das viele Wasser ist das Besondere an Venedig. Mir gefällt die Stadt sehr gut.“

„Dann bleib doch mit Oma hier“, schlug Katrin vor. „Ich kann auch allein nach Hause fliegen.“

„Das kommt überhaupt nicht in Frage.“ Gerdas Mund war nur noch ein schmaler Strich. „Schließlich haben Opa und ich eine Menge Geld dafür bezahlt, damit du das alles siehst.“

„Doof! Doof! Doof!“ heulte Katrin in einer beachtlichen Lautstärke.

„War der Ausflug nicht schön?“ „RS“ trank seinen Tee aus und trat zu Familie Eisenbeiß.

Katrin blinzelte. „Nö.“

Der Mann lachte. „Als ich zum ersten Mal in Venedig war, ging es mir wie dir. Dann aber habe ich nachgedacht.“

„Worüber?“ Katrins Neugier war erwacht.

„Darüber, ob es an dem Tag nicht doch etwas gab, das mir gefallen hat.“

„Und?“

„Es gab tatsächlich etwas. Einen kleinen Park, in dem ich in einem Springbrunnen gespielt habe. Und als ich mich daran erinnerte, fand ich die Stadt gar nicht mehr schlimm.“

Katrin sah den Mann mit großen Augen an. Der nickte zur Bekräftigung.

„Probier es aus. Denk darüber nach, ob dir heute etwas Spaß gemacht hat. Ich bin sicher, dass es etwas gab.“

„Das Eis war lecker“, sagte Katrin nach kurzer Überlegung. Plötzlich grinste sie über das ganze Gesicht. „Und es war lustig, als die Tauben Opa auf den Hut geschissen haben.“

„Katrin!“ Theatralisch fasste sich Gerda ans Herz. „Wie kannst du nur so etwas sagen!“

„Wenn es doch aber wahr ist!“

„Erinnere mich bloß nicht daran.“ Hermann spürte, wie ihm ein kalter Schauer über den Rücken fuhr, als er daran dachte, wie die Touristen auf dem Markusplatz über ihn gelacht hatten. Musste dieses hinterhältige Mistvieh seine Heckklappe auch genau über ihm öffnen! Anklagend hielt der Senior das zusammengeknüllte Etwas in seiner Hand hoch. „Der Hut war ganz neu!“ regte er sich auf und präsentierte das Corpus Delicti.

„Das ist sehr bedauerlich“, sagte „RS“.

Gerda schüttelte den Kopf. „Gegen die Blamage können wir nichts machen. Aber die Rechnung für den Hut schicken wir an die Zeitung. Schließlich war das deren Einfall mit dem Urlaub!“

„Das ist eine gute Idee, Mutti“, lobte Hermann und sah seine Gerda bewundernd an. „Genauso machen wir es.“

„Oma“, meldete sich Katrin zu Wort, „Oma, krieg ich ein Eis?“

„Nein! Du hattest heute schon acht Stück.“

„Na und? Wenn du mir keins kaufst, dann frage ich Opa. Opa? Krieg ich ein Eis?“

„Nein“. Gerda war mit der Antwort schneller als Hermann denken konnte. Sie hatte den Inhalt ihrer Handtasche zum wer-weiß-wievielten Mal an diesem Tag auf den Tisch gekippt und begann nun, alles wieder einzuräumen. „Geldbörse, Papiere, Schlüssel. Alles schön ins mittlere Fach. Da kommt kein Langfinger ran.“

„Krieg? Ich? Ein? Eis?“ Hinter Gerdas Rücken formte Karin mit den Händen in der Luft die Silhouette einer Frau und machte einen Kussmund zu Hermann. Dem brach der Schweiß aus.

„Nun lass das Kind doch“, sagte er zum neunten Mal an diesem Tag.

„Immer musst du nachgeben.“

„Wenn ich jetzt kein Eis kriege, dann sage ich…“

„Gar nichts sagst du“, unterbrach Hermann die Drohung. „Ich bestelle dir einen Eisbecher.“

„Einen großen.“

„Ja. Einen großen.“

Hermann ging zu Luigi. „Meine Enkeltochter möchte einen Eisbecher. Können Sie so etwas?“

„Natürlich können wir so etwas.“ Beleidigt bemühte sich Luigi um Fassung. „Wir sind schließlich ein besonderes Hotel. Page!“

„Si?“

„Einen Eisbecher für die junge Dame. Sag Maria, dass er ruhig etwas größer sein darf als sonst.“

Francesco nickte und lief in die Küche, um die Bestellung aufzugeben.

„Katrin“, dröhnte Gerdas Stimme durch die Halle, „Hände waschen!“ Energisch packte sie ihre Enkeltochter und schob sie vor sich her zur Toilette. Hermann zog einen Stuhl heran und ließ sich langsam nieder. Dann zog er seine Schuhe aus. Leidend betrachtete er seine schmerzenden Füße, die seinem schmerzenden Rücken in nichts nachstanden. Francesco brachte den Eisbecher und stellte ihn auf den Tisch. Auffordernd hielt er seine Hand hin.

„Junger Mann, werden Sie nicht unverschämt. Man kann nicht für jede Kleinigkeit ein Trinkgeld erwarten.“

Beleidigt trollte sich Francesco. Hermann steckte einen Finger in das Gebirge aus Eis, Sahne und Schokostückchen und schleckte ihn genüsslich ab.

„Hm“, machte er. Er nahm sich fest vor, sich bei Gelegenheit (wenn Gerda nicht dabei wäre) auch so einen Genuss zu gönnen. Vielleicht mochte die junge Frau von vorhin Eis?

Katrin und Gerda kamen vom Händewaschen zurück. Die Kleine ließ sich auf den Stuhl fallen, griff nach dem Löffel und hieb in den Berg Sahne.

„Halt!“

„Wasch isch denn, Oma?“ nuschelte Katrin mit vollem Mund. Kleine Sahnespritzer flogen umher.

„Die Serviette“, sagte Gerda. „Ich habe keine Lust, im Urlaub deine Kleider waschen zu müssen.“

Umständlich faltete sie eine Serviette aus der Spenderbox auf dem Tisch auseinander und steckte sie Katrin in den Kragen. Eine zweite wurde dazu bestimmt, die Hose vor Verschmutzungen zu schützen. Und dann passierte es!

Gerda starrte auf ihre Hand, die soeben die Serviette auf Katrins Beinen platziert hatte. Auf die rechte Hand. Sekundenlang. Die Welt ringsherum hatte aufgehört zu existieren. Der Schrei kam völlig unerwartet und prallte von den Wänden ab: „Hilfe!“

Katrin stieß vor Schreck den Eisbecher um. Hermann starrte Gerda an. Selbst Francesco schob neugierig die Wedel der Palme auseinander. Luigi stürzte hinter dem Tresen hervor. „Signora Eisenbeiß“, keuchte er. „Was ist passiert, Signora Eisenbeiß?“

Langsam streckte Gerda ihre rechte Hand aus.

„Ich kann nichts sehen“, sagte Hermann.

„Genau“, sagte Gerda tonlos. „Du kannst nichts sehen. Weil er weg ist.“

„Wer?“ fragte Hermann begriffsstutzig.

„Mein Ring! Mein Ring ist weg.“ Mit jedem Wort wurde Gerda lauter. „Gestohlen!“

„Gestohlen?‘“ Luigi fühlte förmlich, wie er blass wurde. „Gestohlen?“

„Natürlich gestohlen“, fauchte Gerda. „Was dachten Sie denn?“

Hermann löste den Deckel vom Kameraobjekt. Leise klickend schaltete sich das Gerät ein.

„In unserem Hotel ist etwas Seltsames geschehen“, erklärte Hermann den potentiellen Zuschauern. „Der Ring meiner Frau ist auf mysteriöse Weise verschwunden.“

Gerda begann, in der Halle wie ein gefangener Tiger hin und her zu laufen. Vom Fenster zur Tür, von der Tür zu den Tischen, von den Tischen zum Empfang. Dann das Ganze umgekehrt. Währenddessen wich Hermann nicht von ihrer Seite. „Das wird ein super Urlaubsfilm“, strahlte er. „So etwas hat noch keiner von unseren Freunden erlebt.“ Plötzlich kam ihm ein Gedanke. Er drückte die Stopptaste. „Hattest du den Ring heute überhaupt an, Mutti?“

„Natürlich hatte ich ihn an! Da sieht man mal wieder, wie wenig du mich noch beachtest. Mach endlich diese scheiß Kamera aus!“

„Francesco!“ rief Luigi, „bring Signora Eisenbeiß ein Glas Wasser. Und mir einen Grappa! – Wann haben Sie Ihren Ring zuletzt gesehen, Signora Eisenbeiß?“

„Auf der Toilette. Ich war Hände waschen mit Katrin.“

KATRIN! Gerda schöpfte Hoffnung, dass die Kleine vielleicht den Dieb bemerkt hatte. Denn für Gerda stand es fest, dass ein Langfinger ihr hinterhältig aufgelauert und sie beraubt hatte.

„Katrin, ist dir etwas aufgefallen, als wir auf der Toilette waren?“

„Nö. Aber du hast…“

„Sehen Sie, der Dieb hat es ganz geschickt angestellt“, blaffte Gerda den armen Luigi an.

„Oma, du…“

„Katrin, sei still. Du siehst doch selbst, dass Oma ganz aufgeregt ist, weil man sie bestohlen hat.“

„Ich wollte ja auch nur sagen, dass…“ Katrin unternahm einen letzten verzweifelten Versuch, zu Wort zu kommen.

„Möchtest du noch ein Eis?“ bot Hermann freiwillig an. Sofort vergaß Katrin, was sie eigentlich hatte sagen wollen.

„Ja.“

Francesco stellte das Wasser und den Grappa auf den Tisch und drehte sich auf dem Absatz um, um bei Maria eine Portion Schokoladeneis in Auftrag zu geben. Wenn das so weiterging mit dieser seltsamen Familie, dann würde die eine Woche Aufenthalt mehr Umsatz bringen als sonst ein ganzer Monat…

Gerda grabschte nach dem kleineren Glas und stürzte die klare Flüssigkeit hinunter. Das Zeug brannte in der Kehle wie Feuer. Als sich der Husten endlich gelegt hatte, stand „RS“ auf. Bislang hatte er alles nur beobachtet. Jetzt hielt er die Zeit für gekommen, sich ein paar nähere Informationen zu beschaffen. Unaufgefordert nahm er neben Gerda Platz und reichte ihr ein Taschentuch. Das Diebstahlopfer tupfte sich die nicht vorhandenen Tränen ab.

„Bitte erzählen Sie mir alles von Anfang an“, sagte der Mann. Sofort flammte Gerdas altes Misstrauen wieder auf.

„Warum sollte ich einem wie Ihnen alles erzählen?“ Um ein Haar hätte sie das gefährliche M-Wort benutzt. Zum Glück hatte sie rechtzeitig die Kurve gekriegt.

„Manchmal hilft es, wenn man bei dem, was passiert ist, Schritt für Schritt seine Handlungen zurückverfolgt“, erklärte „RS“ gelassen.

Gerda schwieg. Einerseits hatte sie wenig Lust, über diese unerfreuliche Angelegenheit zu sprechen. Aber andererseits war da jemand, der sich für sie interessierte.

„Ich habe den Ring vor dem Händewaschen ausgezogen. So, wie ich das immer mache. Und als ich den Ring wieder anziehen wollte, war er verschwunden.“

Die Treppenstufen knarrten. Es war der Tourist. Als er die seltsame Versammlung in der Halle sah, stutzte er. Sein Gefühl sagte ihm, dass hier etwas ganz gewaltig faul war. Unbemerkt setzte er sich an den freien Tisch in der Ecke. Von hier aus hatte er alles genau im Blick und, was noch wichtiger war, er konnte alles hören. Aus der Tasche seiner beigen Shorts holte er eine kleine Kamera und richtete sie auf Gerda. Leider hatte er nicht mit Luigi gerechnet.

„Keine Fotos!“ schrie der. „Keine Fotos! No! Die Situazione ist für Signora Eisenbeiß schlimm genug!“

Tatsächlich ließ der Mann die Kamera sinken. „Warum mischen Sie sich in meine Angelegenheiten ein?“ fragte er. „Ich möchte wissen, was passiert ist. Ich bin nicht an Frau Eisenbeiß interessiert.“

„Frechheit! Bisher hat sich noch jeder Mann für mich als Frau interessiert.“

Der Tourist schüttelte den Kopf. „Sie haben mich falsch verstanden“, versuchte er die puterrot angelaufene Gerda zu beschwichtigen. „Ich finde Sie als Frau sehr sympathisch.“

Gerda hatte eine Idee. „Soll ich Ihnen den Tatort zeigen?“

„Tatort!“ schrie Luigi entsetzt, „Tatort! Wasse für eine schreckliche Wort! Wir wissen doch noch gar nicht, ob der Ring wirklich gestohlen wurde.“

„Natürlich wurde er gestohlen“, plärrte Gerda zurück. „Oder was soll Ihrer Meinung nach sonst damit passiert sein?“

Jetzt war der Punkt erreicht, an dem selbst der gutmütige und von den Gästen allerhand gewöhnte Empfangschef die Geduld verlor. „Vielleicht hatten Sie den Ring wirklich nicht an?“

Gerda kniff die Augen zu zwei schmalen Schlitzen zusammen. „Halten Sie mich für senil?“ fragte sie mit einem drohenden Unterton.

Katrin zog mit dem Löffel kunstvolle Muster in die Eisreste, die auf dem Tisch klebten. „Manchmal vergisst Oma etwas.“

„Katrin! Du hältst jetzt besser den Mund. Sonst…“

„Sonst was?“ Herausfordernd sah die Kleine ihren Opa an.

„Sonst fahren wir nach Hause!“

„Nach Hause? Geil!“

„Hermann! Kümmere dich um Katrin. Das arme Kind steht sicher unter Schock. Ich sehe noch einmal auf der Toilette nach.“

Wenn Katrin über etwas verfügte, dann war es eine Auffassungsgabe mit Lichtgeschwindigkeit.

„Ja, ich habe einen Schock“, kam es wie aus der Pistole geschossen „Krieg ich jetzt Erdbeereis?“

„Nein.“

„Ich habe Angst.“ Katrin war von der Erpressermasche zu einer erstklassigen Schauspielnummer übergegangen. „Ich denke, Erdbeereis würde mir helfen, diese Angst zu besiegen.“

Luigi tupfte sich den Schweiß ab. In all den Jahren, in denen er im Hotel „Farfalle“ arbeitete, war so ein Diebstahl noch nicht vorgekommen. Stirnrunzelnd beobachtete er, wie der Tourist aufstand, die Halle durchquerte und direkt vor ihm stehen blieb. Lässig zog der Mann ein Notizbuch aus der Tasche seiner Shorts, schlug es auf und griff nach dem hoteleigenen Stift, der für die Gäste bereitlag.

„Was werden Sie tun, um dieser armen Frau zu helfen?“ wollte er von Luigi wissen.

„Wie bitte?“

„Ich habe gefragt, was Sie tun werden, um den Ring von Frau Eisenbeiß zu finden?“

„Ich wüsste nicht, was Sie das angeht!“ Über die Gläser seiner Brille, die auf die Nasenspitze gerutscht war, betrachtete Luigi den anderen von oben bis unten. „Sie sind doch sicherlich hier, um sich Venedig anzusehen. Bewundern Sie die Stadt, kaufen Sie sich ein paar hübsche Andenken und lassen Sie andere Leute ihre Arbeit tun.“

Ohne noch einen weiteren Blick oder gar ein Wort zu verschwenden, ging Luigi an seinen Schreibtisch. Aus der oberen Schublade holte er eine Visitenkarte. Das graue Papier war übersät mit Fettflecken, zwischen die sich ein paar Kaffeespritzer geschummelt hatten. Mit fliegenden Fingern tippte er die Telefonnummer ein. Es tutete einmal. Zweimal. „Buongiorno!“ brüllte Luigi in den Hörer. Unwillkürlich knallte er die Hacken zusammen. „Si!“ Die Worte prasselten wie ein Wasserfall auf den anderen ein.

„Si.“ Erleichterung machte sich auf Luigis Gesicht breit. „Grazie mille, Signore. Mille grazie!”

Gerda kam zurück.

„Signora Eisenbeiß“, rief ihr Luigi von weitem entgegen. „Ich habe gute Nachrichten.“

„Sie haben meinen Ring?“

„Nein.“

„Sie wissen, wer der Dieb ist?“

„Nein. Aber ich weiß jemanden, der Ihnen Ihren Schmuck wiederbeschaffen kann.“ Luigi wedelte mit der zerfledderten Visitenkarte. „Ich habe den besten Privatdetektiv der Stadt für Sie engagiert.“

„Den wer bezahlt?“ Hermann sah sein gesamtes Urlaubsgeld für die unmöglichsten Ausgaben dahinschwinden.

„Selbstverständlich übernimmt das Hotel die Kosten“, beruhigte Luigi den aufgebrachten Geizhals. „Wir sind ebenso wie Sie und Ihre Gattin daran interessiert, diesen Irrtum aufzuklären.“

„Diebstahl“, korrigierte Gerda. „Es war Diebstahl.“ Noch immer misstrauisch, sah sie Luigi an. „Im Übrigen erwarte ich als Geschädigte selbstverständlich, dass Sie alles tun, um mir mein Eigentum wieder zu beschaffen. Wann kommt dieser Detektiv?“

„Signore Porelli wird in zwanzig Minuten hier sein.“

Gerda setzte sich. Unbeirrt starrte sie auf den Minutenzeiger der Wanduhr, der treu und brav das Zifferblatt umkreiste. Runde für Runde. Minute für Minute. Die Luft war zum Schneiden dick.

Hermann schaltete die Kamera ein und richtete sie auf seine Frau. „Gleich treffen wir den besten und berühmtesten Privatdetektiv Italiens“, moderierte er halblaut und andachtsvoll. „Wenn einer den Dieb fangen kann, dann ist es dieser Mann. Mutti, sag was!“

Gerda sagte etwas, weil sie ja bekanntermaßen zu allem etwas zu sagen hatte. Nur war das so gar nicht der Text, den Hermann in seinem Drehbuch vorgesehen hatte. Ohne den Blick von der Uhr zu lassen, schnarrte sie: „Der Mann ist unpünktlich. Die zwanzig Minuten sind um.“

Hermanns Blick folgte dem seiner Frau zur Uhr. „Typisch Ausländer“, pflichtete er ihr bei. „Einfach unzuverlässig.“ Die Kamera vollführte einen eleganten Schwenk und blieb an Katrins eisverschmiertem Mund hängen. „Katrin, sag was!“

Katrin nahm in aller Seelenruhe ihren Zeigefinger aus dem rechten Nasenloch, begutachtete ihren Fund und schnippte ihn unter den Tisch. „Ich will ins Zimmer.“

„Du bleibst“, bestimmte Hermann kurz und knapp. „Schließlich bist du die einzige Zeugin.“

„Ja, aber der Ring…“

„Kind, fang nicht schon wieder davon an.“ Erschöpft massierte sich Gerda mit den Fingerspitzen die Schläfen.

„Ich will doch nur…“

„Sei jetzt still. Du siehst doch, dass alles, was mit dem Ring zusammenhängt, Oma fürchterlich aufregt.“

Katrin schob schmollend die Unterlippe vor. Mit einem Wort hätte sie die ganze Lage entscheidend ändern können. Faul und vom Eis überfressen, hing sie auf dem Stuhl. An jedem anderen Tag hätte ihr das einen Rüffel von Gerda eingebracht, denn „ein anständiges Mädchen sitzt gerade und fläzt sich nicht!“. Aber Gerda hatte Luigi auf dem Kieker. „Wenn Ihr Privatdetektiv nicht bald kommt, kann er mir gestohlen bleiben. Oder glauben Sie etwa, dass jemand seine Arbeit ordentlich macht, der nicht einmal pünktlich ist?“

„Vier Minuten, Signora Eisenbeiß“, versuchte Luigi den Privatdetektiv zu entschuldigen. „Signore Porelli ist bis jetzt nur vier Minuten zu spät. Ganz sicher gibt es einen Grund dafür.“

„Was kann es Wichtigeres geben als den Ring meiner Frau?“

„Wahrscheinlich steckt Signore Porelli im Stau auf dem Canal Grande fest“, mutmaßte der Tourist.

„Da haben Sie es“, trumpfte Hermann auf. „Würden alle Venediger Auto fahren, gäbe es keinen Stau auf dem Wasser.“

„Nee. Aber auf den Straßen.“

Hermann setzte zu einer Antwort an, aber Gerda war schneller. „Du mit deiner dauernden Klugscheißerei“, schnauzte sie Katrin an. „Geh in die Suite und denke darüber nach, ob es richtig ist, Erwachsene ständig zu verbessern!“

Ziel erreicht! Ohne Ohren hätte Katrin jetzt im Kreis gegrinst.

Gerda sprang auf, trippelte hin und her, setzte sich, sprang wieder auf.

„Du machst mich ganz nervös, Mutti“, beschwerte sich Hermann.

„Nervös?“ Gerdas Stimme überschlug sich. „Ich mache dich nervös? Wenn hier einer nervös sein muss, dann bin ich es. Schließlich hat man mich bestohlen. Und es hätte viel Schlimmeres passieren können. Der Dieb hätte mich auch ermorden können. ER-MOR-DEN!“

„Was er aber leider nicht hat“, murmelte Francesco hinter seiner Palme.

„Du denkst wieder nur an dich, Gerda“, sagte Hermann. Wenn er Gerda statt „Mutti“ sagte, war er sauer. „Hast du schon vergessen, dass ich den Ring bezahlt hatte?“

Mit dem Zeigefinger tippte er auf die Notizen von „RS“. „Schreiben Sie, dass meine Frau unbedingt den Ring mit dem größten Stein haben musste. Und schreiben Sie, dass meine Frau schon immer vergesslich und schusselig war. Sie glauben ja gar nicht, was mich das alles schon gekostet hat.“

Der Stift flog nur so über das Papier.

„Scusi, Signore Eisenbeiß“, unterbrach Luigi Hermanns Redefluss. „Signore Porelli ist soeben angekommen.“

5

Ein Mann betrat das Hotel. Trotz der hochsommerlichen Temperaturen trug er einen Trenchcoat. Der hochgeschlagene Kragen verbarg die untere Hälfte seines Gesichtes. Die Augen waren hinter einer überdimensionalen Sonnenbrille versteckt; das übrige Gesicht lag im Schatten eines breitkrempigen Hutes. So gekleidet, erfüllte Signore Porelli zumindest optisch die Klischees eines Privatdetektives. Langsam kam er näher. Dabei tat er, als würde er alles genau in Augenschein nehmen.

„Buongiorno“, flüsterte er.

Luigi lief ihm mit ausgebreiteten Armen entgegen. „Signore Porelli“, rief er euphorisch. „Schön, dass Sie da sind.“

„Ja.“ Porelli bemühte sich nach Kräften, seiner Stimme einen dunklen Klang zu verpassen, was allerding eher klang, als habe er Halsschmerzen. „Wo ist das Opfer?“

„Das bin ich!“ Das Opfer drängte sich zwischen Porelli und Luigi. „Ich wurde bestohlen.“

„Ich verstehe“, sagte Porelli.

„Was verstehen Sie? Ich habe Ihnen doch noch gar nichts erzählt.“ Gerda war verwirrt. Und noch etwas anderes irritierte sie. „Wie kommt es, dass hier alle so gut deutsch sprechen?“

„Meine Mutter ist Deutsche“, erklärte Porelli.

„Ach so.“

Porelli nahm die Sonnenbrille ab und steckte sie in die Manteltasche. „Ich höre.“

Gerda holte tief Luft. Detailliert schilderte sie den Diebstahl. Als Sahnehäubchen erwähnte sie, dass der Dieb wohl nur in letzter Minute daran gehindert worden war, sie umzubringen. Bei der Erwähnung eines möglichen Mordes wurde Porelli kreidebleich. Haltsuchend klammerte er sich an der Tischkante fest.

Luigi eilte besorgt herbei. „Ist Ihnen nicht gut, Signore Porelli?“

„Wasser“, krächzte der. „Kann ich bitte ein Glas Wasser haben? Die Hitze macht mir zu schaffen.“

„Natürlich“. Luigi gab Francesco ein Zeichen.

„Ihr Ring wurde also gestohlen“, fasste der Privatdetektiv Gerdas langatmigen Bericht in fünf Worten zusammen.

„Der Ring, den ich bezahlt hatte“, ergänzte Hermann.

Francesco brachte das Wasser. Porelli stürzte es hinunter, unterdrückte einen Rülpser und lächelte erleichtert. „Wissen Sie noch, wann Sie den Schmuck zuletzt gesehen haben, Signora… Scusi, ich weiß noch nicht einmal Ihren Namen. Luigi hat mir nur erzählt, dass er mich braucht, um einen Diebstahl aufzuklären.“

„Eisenbeiß. Gerda Eisenbeiß. Und das ist mein Mann, der Hermann.“

„Es freut mich, Sie kennenzulernen, trotz der unglücklichen Umstände. Wann haben Sie den Ring zuletzt gesehen, Signora Eisenbeiß?“ wiederholte Porelli seine Frage.

„Als ich mir die Hände gewaschen habe. Dafür ziehe ich meinen Schmuck immer aus. Als ich den Ring wieder anziehen wollte, war er verschwunden.“

„Haben Sie ihn in dieser Zeit aus den Augen gelassen?“

„Nein. Doch. Mir war die Brille heruntergefallen. Zum Glück ist sie nicht kaputt.“

„Weil ich dir damals geraten habe, Kunststoffgläser zu nehmen“, warf Hermann ein. „Obwohl die ja viel teurer waren als einfache.“

Porelli räusperte sich. „Ich werde jetzt den Tatort in Augenschein nehmen“, sagte er wichtigtuerisch. „Und ich bin sicher, wenn ich auch nur den Hauch einer Spur finde, dann haben Sie Ihren Ring bald zurück, Signora Eisenbeiß.“

„Soll ich mitkommen?“

„Das ist nicht nötig. Aber bitte halten Sie sich zu meiner Verfügung.“

Das alles klang, als habe es Porelli aus einem „Handbuch für angehende Privatdetektive“ auswendig gelernt.

„Jederzeit“, lächelte Gerda. „Sie haben mein vollstes Vertrauen.“

Durch die Halle schallte die Titelmelodie von „Tom und Jerry.“ Mit hochrotem Kopf griff der Privatermittler in seine Manteltasche und holte ein Mobiltelefon heraus. „Andrea Porelli“, meldete er sich. Das Gespräch war sehr kurz. „Ich gehe den Tatort besichtigen“, erklärte er nur eine Minute später, holte aus der Manteltasche ein paar dünne Gummihandschuhe und streifte sie über. Gerda sah ihm nach. Als er endlich in der Toilette verschwunden war, stand sie immer noch da und starrte auf die Tür.

„Stimmt etwas nicht?“ fragte Hermann besorgt. „Du siehst aus, als hättest du ein Gespenst gesehen.“

„Unser Privatdetektiv kommt mir spanisch vor“, zischte Gerda.

„Blödsinn. Wir sind in Italien.“

„Ach! Ich meine doch nicht so spanisch! Sondern spanisch eben! Der Mann ist mir nicht geheuer“, erklärte sie. „Mit dem stimmt etwas nicht.“

Hermann guckte wie eine Kuh, wenn es blitzt. „Du warst eben noch begeistert von ihm.“

Gerda senkte die Stimme. „Da wusste ich ja auch nicht, was ich jetzt weiß“, raunte sie. „Der ist nicht das, was er vorgibt.“

„Kein Privatdetektiv?“

„Kein Mann.“

„Wie kommst du denn auf so einen Blödsinn?“ Respektlos tippte sich Hermann an die Stirn.

„Hast du nicht zugehört, wie er sich am Telefon gemeldet hat? Mit Andrea Porelli.“

„Und?“ Hermann begriff noch immer nicht, worauf Gerda eigentlich hinauswollte. Die verdrehte genervt die Augen. „An-dre-a!“ skandierte sie. „Andrea ist ja wohl eindeutig ein weiblicher Vorname.“

Jetzt ging Hermann ein Licht auf. „Du meinst…?“

„Ja“. Auf Gerdas Gesicht zeichneten sich rote Flecken der Aufregung ab. „Ja. Ich bin mir sicher. Dieser Porelli war früher eine Frau. Andrea!“

„Sicher?“

„Ganz sicher!“

„RS“ sah von seinen Notizen auf. Um seine Augenwinkel tanzten winzige Lachfältchen und das Zucken seiner Mundwinkel verriet, dass er sich insgeheim über etwas köstlich amüsierte. „Verzeihen Sie, wenn ich mich einmische“, sagte er. „Aber ich habe den letzten Teil Ihres Gespräches gehört. Andrea ist…“

„Natürlich!“ Gerda fiel dem Mann ins Wort. „Das hätte ich mir denken können, dass Sie den? die? das? Privatdetektiv kennen. Ihr steckt doch alle unter einer Decke. Alles Mafia!“

„Mutti!“ – „Signora Eisenbeiß!“ riefen Hermann und Luigi fast synchron. Francesco biss sich hinter seiner Palme in die Hand, um nicht laut zu lachen. So lustig war es in seiner Ausbildungszeit noch nie zugegangen. Nur mit Mühe gelang es ihm, einigermaßen Haltung anzunehmen.

Porelli kam von der Tatortbesichtigung zurück.

„Haben Sie ihn?“ schmetterte ihm Hermann entgegen.

Der Detektiv schwieg. Aus seiner scheinbar endlos tiefen Manteltasche holte er eine zerknautsche Packung Zigaretten. Umständlich angelte er mit spitzen Fingern eine heraus und schob sie sich lässig in den Mundwinkel. Dann ließ er ein silbernes Feuerzeug aufblitzen und inhalierte einen tiefen Zug. „No“, krächte Porelli und rang japsend nach Luft. „No. Noch nicht.“ Endlich war der Hustenanfall vorüber. „Ich habe keinen Ring gefunden“, erklärte er, als er wieder normal sprechen konnte. Das war genau die Antwort, die Gerda vorausgesehen hatte.

„Natürlich haben Sie keinen Ring gefunden“, rief sie aufgebracht. „Denn man kann etwas nicht finden, wenn es gestohlen wurde. Gestohlen! Geklaut! Zappzarapp!“

„Haben Sie in ihrem Zimmer nachgeschaut?“

Gerda schnappte nach Luft. „Nein“, stieß sie hervor. „Da brauche ich auch nicht nachzuschauen. Weil ich den Ring nämlich anhatte. Hier! An meinem Finger!“ Der Finger schnellte vor, und wäre Porelli nicht so schnell ausgewichen, so hätte er mit Sicherheit zu einem Augenarzt gemusst.

„Ich meine ja auch nur, dass man manchmal vergisst, wo man etwas hingelegt hat.“

„Sie halten mich also für meschugge?“

„Nein. Natürlich nicht.“

„Doch.“ Das kam leise, aber deutlich, hinter der Palme hervor.

„Zeigen Sie mir bitte Ihr Zimmer“, stieß der Privatdetektiv hastig hervor. Nicht, dass dieser unglückselige freche Page mehr solcher Kommentare von sich gab und Gerdas Laune noch schlechter wurde, falls das überhaupt möglich war.

Hermann hielt die Zeit für gekommen, Porelli darüber aufzuklären, dass Gerda und er keineswegs irgendwelche gewöhnlichen Touristen waren. „Meine Frau zeigt Ihnen unsere Suite“, näselte er. „Wir bewohnen eine Suite. Wissen Sie, wie haben die Reise bei einem Preisausschreiben gewonnen.“

„Alles inklusive. Außer für Katrin. Für die haben wir zugezahlt. Aber das machen Großeltern ja gern.“ Gerda schob (schon wieder!) ihre Hand in die Hermanns. „Lass mich bloß nicht mit der allein!“ flüsterte sie.

Porelli stand auf der ersten Stufe und wartete. Hermann raffte Kamera, Taschen und was sonst noch von ihnen in der Halle verteilt lag, zusammen.

„Jetzt werden Sie Katrin kennenlernen“, kündigte Gerda an.

„Katrin?“

„Die wichtigste Zeugin.“

Nacheinander drängelten sich das Ehepaar Eisenbeiß und der Privatdetektiv in die Suite. Mit einem Knall fiel die Tür hinter ihnen ins Schloss. Schlagartig war es still in der Halle. Francesco sank in seinen Stehschlummer, Luigi las, „RS“ und der Tourist machten sich – jeder für sich natürlich – eifrig Notizen. Der Tourist hob die Hand und winkte nach dem Pagen. Widerwillig setzte sich Francesco in Bewegung.

„Bringen Sie mir bitte einen Espresso.“

„Gleich?“

Stirnrunzelnd sah der Mann von seiner Schreiberei auf. „Natürlich gleich.“

„Das geht nicht“, sagte Francesco schläfrig. „Die Maschine ist kaputt.“

„Die Maschine ist kaputt?“

„Hab‘ ich doch gesagt.“ Francesco drehte sich um, um den Rückzug hinter seine Palme anzutreten. Ein lauter Ruf hielt ihn zurück.

„Page!“

Vier Buchstaben, die förmlich nach Ärger klangen! Plötzlich hellwach lief Francesco zu „RS“.

„Was kann ich für Sie tun, Signore?“ fragte er unterwürfig.

„Es gibt heute keinen Espresso?“ fragte „RS“.

„Ja.“ Francesco zog den Kopf ein. „Zu unserem größten Bedauern ist die Maschine kaputt.“

„Dann bieten Sie Ihren Gästen lieber gar nichts an, als nach einer Ersatzlösung zu suchen?“ Fassungslos kritzelte „RS“ etwas in sein Buch.

„Na ja, es ist so, dass…“ Francesco wusste nicht mehr weiter. Hilfesuchend schielte er zu Luigi. Der verstand endlich, hob sein Hinterteil vom Stuhl und eilte herbei.

„Aber natürlich gibt es eine Lösung, Signore“, beeilte er sich zu versichern. „Francesco! Sag Maria, sie soll für unseren Gast ihren Espresso von Hand aufbrühen. Sie werden sehen, Signore, Maria kocht den besten Espresso in ganz Italien.“

„Ich will ihn nicht sehen, ich will ihn schmecken“, knurrte „RS“.

„Ja, natürlich! Francesco! Du stehst ja immer noch herum“, schimpfte Luigi. „Geh endlich in die Küche.“

„Jawohl! Einen Espresso!“

„Zwei!“ rief „RS“.

„Zwei?“

„Zwei. Due. Two. Dwa. Deux.”

„Angeber”, kommentierte Francesco leise die Sprachkenntnisse des Gastes und verschwand endlich in der Küche.

„Ist noch etwas?“ fragte „RS“.

„Oh, nein, ganz und gar nicht“, stammelte Luigi. „Ich… ich wollte nur sagen, dass… Es tut mir leid, dass Francesco Sie so schlecht bedient hat.“

„RS“ winkte ab. „Schon gut.“ Endlich verstand Luigi und ging. Der Tourist warf „RS“ einen Blick zu. Lag darin nicht eine versteckte Heiterkeit?

Francesco kam mit einem Tablett aus der Küche. Vorsichtig balancierte er zwei kleinen Tassen, aus denen es verführerisch duftete. Der Espresso war so schwarz, dass er das Porzellan dunkel gefärbt hatte.

„Bitte sehr! Der beste Espresso in ganz Italien!“ Francesco warf sich in die Brust. „RS“ nickte nur. Dann nahm er eine der beiden Tassen und reichte sie an den anderen weiter.

„Danke.“ Mit Kennermiene atmete der Tourist den Duft des Espressos ein. „Nicht schlecht.“

„Sie sprechen ausgezeichnet deutsch“, stellte „RS“ fest.

Der Tourist setzte seine Tasse mit leisem Klirren ab. Auf dem Canal Grande zog ein Ausflugsboot vorüber, tutete einen Gruß hinüber zur Rialto-Brücke und machte es Luigi unmöglich, der Unterhaltung zu lauschen. „Vielen Dank. Aber das ist keine Kunst. Ich habe einige Jahre in Berlin gelebt und gearbeitet.“

„RS“ deutete auf das Notizbuch. „Sie schreiben?“

„Ja.“

„Dann sind wir Kollegen“, sagte „RS“. „Mein Name ist Schulzenberger. Rainer Schulzenberger. Ich schreibe für ‚Das bunte Blatt‘ und berichte exklusiv über Familie Eisenbeiß, die diese Reise gewonnen hat.“

„Und für Katrin zuzahlen muss.“ Diese Bemerkung konnte sich Schulzenbergers Gegenüber nicht verkneifen. Wie auf Kommando brachen die beiden Männer in Gelächter aus. Stirnrunzelnd sah Luigi zu ihnen. Es war ihm ein Dorn im Auge, das sich dieser aufdringliche Tourist so bei „RS“ anbiederte und ihn belästigte.

„Allerdings weiß Familie Eisenbeiß nicht, wer ich bin“, sagte Schulzenberger. „Und ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie mich nicht verraten.“

„Ich verstehe. Wenn Gerda wüsste, dass Sie von der Zeitung sind – nicht auszudenken. Übrigens, ich bin Ricardo Scaloppino.“

Das Ausflugsboot tutete wieder und wieder. Dann hatte es endlich die Brücke passiert.

„Hast du gehört, worüber die beiden geredet haben?“ zischte Luigi in Richtung Palme.

Francesco grinste verschlagen. Im Gegensatz zu seinem Chef hatte er alles sehr gut verstanden. Der junge Mann beschloss, sein Wissen für sich zu behalten und Luigi weiter in dem Glauben zu lassen, Schulzenberger sei Scaloppino und Scaloppino sei Schulzenberger. Zumindest vorerst. Denn Luigi war in der letzten Zeit nicht sehr nett zu ihm gewesen, und für Francesco war jetzt die Stunde einer klitzekleinen Rache gekommen.

„Gar nichts habe ich verstanden“, log er. Dabei sperrte er Augen und Ohren weit auf, um kein Wort zu verpassen.

„Das hört sich sehr interessant an“, sagte Schulzenberger gerade. „Würden Sie mir bei einem Glas Rotwein mehr darüber erzählen? Ich lade Sie ein.“

„Gern. Es ist mir ein Vergnügen.“

„Luigi“, rief Schulzenberger. „Bringen Sie uns Ihren besten Rotwein.“

Der Tag war bis jetzt schon schlimm gewesen, aber jetzt schien er in einer Katastrophe enden zu wollen. Luigi setzte eine Miene des tiefen Bedauerns auf, als er würdevoll zu Scaloppino und Schulzenberger schritt. Die hatten es sich inzwischen an einem gemeinsamen Tisch bequem gemacht. Erwartungsvoll sahen sie Luigi entgegen.

„Wo ist der Rotwein?“ wollte Scaloppino wissen. Luigi warf dem vermeintlichen Touristen einen verächtlichen Blick zu.

„Ich bedaure sehr, aber Rotwein wird nicht möglich sein“, sagte er zu Schulzenberger. „Möchten Sie vielleicht lieber noch einen Espresso?“

„No!” polterte Scaloppino. „Wir wollen keinen Espresso, wir wollen Rotwein. Vino Rosso! Und zwar den besten, den Sie haben. Capito?“

Mit Todesverachtung betrachtete Luigi den Mann. „Können Sie sich von Ihrem kleinen Reportergehalt überhaupt einen guten Tropfen leisten?“ fragte er mit spöttisch hochgezogenen Augenbrauen.

„Nun bringen Sie uns endlich eine Flasche“, knurrte Schulzenberger ungehalten. „Oder nein, bringen Sie uns lieber gleich zwei Flaschen.“

Auf Luigis Stirn bildeten sich dicke Schweißtropfen. „Ich sagte doch, dass ich Ihnen keinen Rotwein bringen kann. Es ist ja nicht so, dass ich nicht möchte. Aber ich kann nicht.“

Amüsiert bis in die Haarspitzen hörten sich Schulzenberger und Scaloppino das Gestammel an.

Der Kritiker beschloss, dem Empfangschef auf den Zahn zu fühlen. „Dann trinken wir Weißwein.“

„Genau!“ rief Schulzenberger. „Bringen Sie uns Weißwein! Oder haben Sie den etwa auch nicht?“ In der Frage klang unmissverständlich eine Drohung mit, so wie „Wenn du den guten Tropfen nicht rausrückst, ziehen wir dir Betonschuhe an und schmeißen dich in den Canal Grande!“.

„Natürlich haben wir Weißwein“, piepste Luigi.

„Worauf warten Sie dann noch? Wir haben Durst!“

„Das geht nicht. Weil… weil… Der Weinkeller ist zugeschlossen!“ Luigi fand die Ausrede glaubwürdig. Blöd war nur, dass dieser Besserwisser von Touri schon wieder etwas zu meckern hatte.

„Schließen Sie den Weinkeller auf, gehen Sie hinein und kommen Sie mit Wein zurück. Zwei Flaschen Rotwein und zwei Flaschen Weißwein.“

„Ich kann den verdammten Weinkeller nicht aufschließen.“ Luigi war kurz davor, die Beherrschung zu verlieren. „Der Schlüssel ist fort. Der unglückselige Page hat ihn verbummelt.“

Francesco sprang hinter seiner Palme hervor. „Ich habe keinen Schlüssel verbummelt.“

„Sei still!“ zischte Luigi. „Die brauchen nicht zu wissen, dass wir gar keinen Weinkeller haben.“

Francesco blieb die Spucke weg. Jeder einzelne Pickel in seinem Gesicht nahm eine beleidigt-rote Farbe an. „Das ist gemein von Ihnen, Chef. Immer bin ich an allem schuld, auch wenn ich gar nichts dafür kann.“

„Reg dich nicht so auf. Du bist der Jüngste im Hotel. Da ist das eben so.“

„Nein! Nur weil ich der Jüngste bin, heißt das nicht automatisch, dass ich auch der Dümmste bin.“

„Luigi, wir dürfen davon ausgehen, dass wir hier und heute keinen Wein bekommen?“ unterbrach Schulzenberger den Schlagabtausch zwischen Chef und Lehrling.

Keine Antwort.

„Lassen Sie uns in der Stadt etwas trinken“, schlug Scaloppino vor. „Ich kenne eine sehr schöne Bar direkt am Markusplatz.“ Er schob sein Notizbuch in die Tasche, setzte die Sonnenbrille auf und zog die Socken gerade, die auf die Sandalen gerutscht waren.

Angewidert wandte sich Luigi ab. Gar kein Vergleich mit dem eleganten, weltgewandten „RS“. Der stand jetzt ebenfalls auf, zog seine Jacke an und holte aus der Tasche einen zerknüllten Geldschein. Lässig warf er ihn auf den Tisch. Die beiden Männer nickten Luigi noch einmal zu und stürzten sich in den abendlichen Trubel.

„Hast du das gesehen?“ Aufgeregt stieß Luigi Francesco an.

„No. Was denn?“

„Der große Scaloppino hat diesem armseligen Touristenwürstchen die Tür aufgehalten. Das ist Charakterstärke! Das zeichnet einen Mann von Welt aus!“

Francesco strahlte über das ganze Gesicht. „Wow! Dann bin ich ja auch ein Mann von Welt. Ich halte Ihnen immer die Tür auf.“

Luigi verpasste Francesco eine Kopfnuss. „Du hältst mir die Tür auf, weil ich dein Chef bin. Aus keinem anderen Grund!“

Auf der Treppe wurden Schritte laut.

„Eine solche Unruhe hat es in diesem Haus seit Jahren nicht gegeben.“ Luigi brachte sich hinter seinem Empfangstresen in Sicherheit.

„Wir hatten seit Jahren auch nie mehr als einen Gast“, parierte Francesco trocken. Diesem Argument hatte selbst Luigi nichts entgegenzusetzen.

Auftritt Familie Eisenbeiß samt Privatdetektiv. Gerdas Miene war wie versteinert. Was sie in den letzten Minuten von diesem Privatdetektiv gesehen hatte, war so ganz anders als das, was im „Tatort“ immer gezeigt wurde. Porelli versuchte, Gerdas Laune mit einem alten Trick zu verbessern. „Eine ganz bezaubernde Enkeltochter haben Sie.“

Der Versuch prallte an Gerda ab. Sie bellte einen einzigen Satz in die Halle: „WANN? KRIEGE? ICH? MEINEN? RING? ZURÜCK?“

„Ich fahre jetzt ins Büro und werte alle Spuren und Fakten aus. Morgen früh melde ich mich bei Ihnen. Ich werden die ganze Nacht arbeiten, um Ihren Ring wiederzubeschaffen, Signora Eisenbeiß!“ Ehe Gerda sich wehren konnte, zog Porelli ihre rechte Hand an seine Lippen und hauchte einen Kuss darauf. Dann schlug er den Kragen seines Trenchcoats hoch und drückte den Hut tiefer in das Gesicht. Langsam zog er die Eingangstür auf und spähte hinaus auf die Straße. Er schob die Hände tief in die Manteltaschen, zog den Kopf ein und verschwand in den Touristenströmen.

Als habe sie eine gefährliche Krankheit, hielt Gerda ihre geküsste Hand weit von sich. Mit der linken Hand holte sie aus der Tasche eine Flasche Desinfektionsmittel und ein Päckchen Taschentücher. „Das sind komische Sitten hier in Italien“, stellte sie fest. „Wo gibt es denn so etwas, dass eine Frau der anderen die Hand vollsabbert?“ Dann verstaute sie das Desinfektionsmittel wieder in der Tasche. Das gebrauchte Tuch ließ sie auf dem Tisch liegen. Durch das Fenster war ein phantastischer Sonnenuntergang zu sehen. Im Licht der alten Straßenlaternen waren viele Leute unterwegs. Hermann dachte, wie schön es sicher wäre, irgendwo in Venedig noch ein Glas Wein zu trinken. Kaum hatte er diesen Gedanken zu Ende gedacht, als es aus ihm herausbrach: „Gehen wir noch irgendwo etwas trinken, Mutti? Nur wir beide?“

„Nein.“ Gerda gähnte ungeniert. „Erstens bin ich todmüde nach diesem Tag. Und zweitens habe ich keine Lust, für ein Glas Wein so viel Geld auszugeben, wo ich im Supermarkt drei Flaschen für bekomme.“

„Mutti, wir haben Urlaub!“

„Das weiß ich selbst“, sagte Gerda. „Aber Urlaub heißt ja nicht, dass man sein Geld mit vollen Händen zum Fenster rauswerfen muss. Hier ist sowieso alles völlig überteuert.“

„Darf ich Ihnen eine Empfehlung geben?“ mischte sich Luigi ein. „Gönnen Sie sich einen Besuch in ‚Hardy’s Taverne’. Dort gibt es eine Spezialität, die in Venedig erfunden wurde: Champagner mit Pfirsich.“

„Wir trinken keinen Champagner“, sagte Gerda. „Wir bekommen davon immer Sodbrennen.“

„Mutti, also ich würde schon gerne…“

„Ach was. Jetzt tust du noch so, als könntest du Bäume ausreißen. Aber ich wette, du schläfst, sobald du im Bett bist.“

„Ist das nicht Sinn und Zweck eines solchen Möbels?“ murmelte Hermann. „Zumindest, wenn man neben dir liegt.“

Hoppla! Das klang gar nicht nach Hermann, sondern nach einem Rebellen!

Gerda steuerte geradewegs auf die Treppe zu. Auf der untersten Stufe drehte sie sich um. „Ich für meinen Teil gehe jetzt schlafen“, erklärte sie. „Die Betten habe ich schon frisch bezogen.“

Ohne ihren Mann noch länger zu beachten, marschierte sie nach oben. Hermann warf einen sehnsüchtigen Blick nach draußen auf das pulsierende Nachtleben. In ihm tobte ein schwerer Kampf. Sein innerer Schweinehund wollte etwas erleben und wenigstens einmal im Leben so richtig die Sau rauslassen. Aber das Weichei riet dringend davon ab. Und es gewann den Kampf! Mit hängendem Kopf schlich Hermann seiner Gerda hinterher. Das Stimmengemurmel der beiden wurde leiser und verstummte schließlich ganz.

Francesco und Luigi seufzten synchron.

„Chef?“

„Hm?“

„Hier ist nichts mehr los, oder?“

„Mach Feierabend und geh zu deinen Freunden.“

In weniger als einer Minute war Francesco umgezogen. Er brüllte „Ciao, Chef!“ durch die Halle und verschwand.

Luigi reckte sich und trat vor die Tür. Der Himmel über Venedig wurde rasch dunkler. Ganz hinten über der Lagune schimmerten die letzten rosaroten Streifen Tageslicht. Die ersten Sterne funkelten.

Entspannt ging Luigi zurück in das Hotel. Maria war schon fort. In der Küche stand ein großer Salat mit Oliven, daneben duftete frisches Weißbrot. Der Mann stellte alles auf ein Tablett und trug es zur Rezeption. Dann dimmte er das Licht in der Halle und schaltete die Außenbeleuchtung ein, die seit Wochen nur aus „…ar…lle“ bestand. Aus den Tiefen des Schreibtisches holte Luigi eine Flasche Rotwein. Mit Kennerblick studierte er das Etikett und schnalzte anerkennend mit der Zunge. Der Wein funkelte tiefrot im Glas. Das war die schönste Stunde des Tages, jene Stunde, die für alle Mühen und nörgelnde Gäste entschädigte.

Die Nacht war jetzt endgültig hereingebrochen. In der Küche fiel in regelmäßigen Abständen mit einem dumpfen „Plopp“ ein Tropfen aus dem Hahn in die Spüle. Luigi schob den leeren Teller zur Seite, legte die Füße auf den Schreibtisch und blätterte in seinem Magazin. Allmählich wurden ihm die Augen schwer. Der Kopf sank auf die Brust. Mit einem Rascheln entglitt die Zeitschrift seinen Händen und segelte zu Boden. Luigi schlief wie jemand, der den ganzen Tag schwer gearbeitet hat. Er hörte nicht einmal das Gewitter, das über Venedig tobte. Und schon gar nicht hörte er die leisen Schritte vor dem Hotel.

Vorsichtig wurde die Eingangstür aufgezogen. Durch einen schmalen Spalt huschte eine schwarze Gestalt herein. Sie trug einen hautengen Anzug, der ihren Körper wie eine zweite Haut umschloss. Die Füße steckten in dünnen Schuhen mit Gummisohlen, und die Haare waren unter einer Art Kapuze verborgen, die auch das Gesicht der Frau verdeckte. Denn dass es sich um eine Frau handelte, war an den Rundungen unschwer zu erkennen. Es war „Il Gatta“, „Die Katze“, wie sie genannt wurde. Fast jedes Hotel in Venedig hatte sie schon besucht und noch niemand hatte es bisher geschafft, sie zu erwischen.

Auf Zehenspitzen schlich sie geschmeidig zu Luigi. Der schmatzte im Schlaf, grunzte leise und legte den Kopf von der linken auf die rechte Seite. Die Frau vollführte eine Drehung. Dabei holte sie aus Luigis Jacke über der Stuhllehne eine Geldbörse. Sie öffnete sie, warf einen Blick hinein und steckte sie zurück in die Jacke. Geräuschlos zog sie eine Schreibtischschublade auf. In einer alten Zigarrenkiste lagen ein paar Münzen und Scheine, die gesamten Tageseinnahmen des Hotels. Die Diebin nahm ihren schwarzen Rucksack ab und öffnete ihn völlig geräuschlos. Sie legte das Geld hinein, stellte die leere Zigarrenkiste zurück und schob die Schublade wieder zu. Luigi entfuhr ein Schnarcher. Unbeweglich verharrte die Frau mitten in der Bewegung und beobachtete den Empfangschef. Der lächelte im Schlaf, faltete die Hände über dem Bauch und schnarchte weiter. Auf Zehenspitzen lief die Frau zum Wandschrank. Sie wusste, dass hier die wunderschönen alten Bestecke aus Silber aufbewahrt wurden. Ohne das geringste Klirren verschwanden Messer, Löffel und Gabeln ebenfalls im Rucksack. Auf dem obersten Schrankbrett stand ein Leuchter. Die Unbekannte angelte ihn herunter, betrachtete ihn mit Kennerblick und steckte ihn zu dem anderen Diebesgut. Die Zimmer der Gäste würde sie sich in einer anderen Nacht vornehmen.

Die „Katze“ schlich zur Tür. Aus der Ferne war betrunkener Gesang zu hören, der rasch näherkam, vor dem „Farfalle“ verstummte und gleich darauf lauter als zuvor einsetzte und direkt auf den Eingang zusteuerte. Auch wenn die Sänger ganz bestimmt nicht mehr nüchtern waren, so konnte und wollte es die „Katze“ nicht riskieren, gesehen zu werden. Rasch lief sie in die Toilette und versteckte sich. Den schweren Rucksack legte sie neben sich. Zusammengekauert war sie nicht mehr als ein Schatten.

6

Vor der Tür hob Scaloppino lehrerhaft den Zeigefinger. „Ich hab‘ noch eins“, verkündete er und holte tief Luft. „Weiße Rosen aus Athen“, schallte es durch das nächtliche Venedig. „Weiheiheiße Rohohosen aus Athehehen.“

„Halt!“ Schulzenberger hielt sich an der Straßenlaterne fest. „Da is mal wassuklären.“

„Waswillsduklären? Weiheiße Rohohosen aus Athehehen.“

„Genau“, sagte Schulzenberger. „Aus Athen. Müssen die Rosen verzollt werden?“

„Weisichdochnich. Is doch blos’n Lied.“

„Gibt es in Athen überhaupt Rosen?“

„Vielleicht heißt es ja gar nicht Rosen, sondern – Hosen!“ überlegte Scaloppino. „Weiheiheiße Hohohosen aus Athen!“

„Pscht!“ Prustend deutete Schulzenberger auf das Hotel. „Sei leise. Sonst wecken wir Gerda auf.“

„Pscht!“

Die beiden Männer versuchten, sich gleichzeitig durch die Tür zu drängeln. „Vielleicht hätten wir Gerda ein paar Rohohosen mitbringen sollen“, nuschelte Scaloppino.

Ein lautes Grollen war zu hören. Schulzenberger presste beide Hände auf den Bauch. „Hassu auch son Hunger?“

Scaloppino nickte heftig. „Ja. Son kräftiges Frühstück wäre jetzt genau das Richtige.“

„Un wo kriegen wir um diese Uhrzeit was?“

Grinsend zeigte Scaloppino auf den noch immer schnarchenden Portier. „Von Luigi.“

„Nee.“ Schulzenberger schüttelte den Kopf. „Der mach uns nichts su essen. Und schon gar nich mitten inne Nacht.“

„Wetten? Um eine Flasche Rotwein?“

Schulzenberger schlug ein. „Un wie wills du Luigi überreden?“

„Ich überrede Luigi gar nicht”, prustete Scaloppino. „Du has alle Macht, denn du bist der große Hotelkrikiki… Hotelkritiker.“ Der Lachanfall war vorüber. „Luigi verwechselt uns beide immer noch“, sagte Scaloppino leise. Mit jedem Wort wurde er nüchterner und fand seinen Plan immer genialer. „Deshalb wird er auf dich hören.“ Seine Augen funkelten belustigt, als er unter die Uhr trat. „Mach mal Räuberleiter.“

„Was hast du vor?“ Schulzenberger konnte den Gedankensprüngen seines neuen Freundes nicht folgen.

„Das wirst du gleich sehen.“ Scaloppino trat vorsichtig in die gefalteten Hände. Idiotisch grinsend drehte er den Minutenzeiger der altmodischen Wanduhr so lange, bis die Uhr endlich Acht anzeigte. „Wetten? Luigi macht uns Frühstück.“

Mit der flachen Hand schlug Scaloppino ein paar Mal auf die Klingel, die auf dem Tresen stand.

Der Portier fuhr erschrocken aus dem Schlaf hoch. „Was… wo?“ stammelte er.

Schulzenberger drehte den Kopf zur Seite, damit Luigi seine Rotweinfahne nicht mitbekam. „Wir möchten frühstücken“, sagte er.

Mit einem Schlag war Luigi hellwach. „Sie möchten was?“

„Frühstücken. Sie wissen schon: Toast, Kaffee, Eier, Schinken.“

„Um diese Zeit?“

„Guter Mann, in jedem anständigen Hotel gibt es ab acht Uhr Frühstück.“ Schulzenberger gefiel sich zunehmend in seiner Rolle als Hotelkritiker. „Ich glaube, ich muss mir schon wieder Notizen machen.“ Seine Hand wanderte in die Jackentasche, um das Schreibheft herauszuholen.

Luigi blickte auf seine Armbanduhr. „Meine Herren, es ist fünf Uhr. Morgens!“

„Irrtum!“ Empört zeigte Schulzenberger auf die Wanduhr. „Es ist nach acht. Auch morgens!“

„Madonna mia! Ist es wirklich schon so spät?”

Schulzenberger und Scaloppino nickten synchron.

„Offensichtlich ist meine Uhr stehen geblieben“, murmelte Luigi. „Bitte verzeihen Sie. Frühstück kommt gleich. Maria! Francesco!“

Niemand antwortete. Wie auch? Maria lag im Bett und träumte von einem kleinen Häuschen in den Bergen. Und Francesco träumte – wie fast jede Nacht – von Carlotta.

Hastig zog Luigi seine Jacke an. „Meine Herren, ich werde mich höchstpersönlich um Ihr Frühstück kümmern.“

„Avanti!“ sagte Schulzenberger. „Wir haben nicht den ganzen Tag Zeit.“

„Natürlich. Selbstverständlich. Sofort!“ In Windeseile verschwand Luigi in der Küche.

„Hast du gesehen, was für große Augen Luigi gemacht hat, als er feststellen musste, dass es Zeit fürs Frühstück ist?“ fragte Scaloppino lachend.

„Ja. Augen so groß wie Pizzateller.“

Scaloppino öffnete ein Fach des Schreibtischs.

„Was machst du da?“ fragte Schulzenberger.

„Ich suche“, klang es von unten. „Und ich habe gefunden.“ Scaloppino schwenkte Luigis angebrochene Flasche Rotwein. „Komm, mein Freund. Leeren wir die Flasche in meinem Zimmer.“

Mit angehaltenem Atem lauschte die „Katze“ in ihrem Versteck. Endlich waren die Stimmen der beiden Männer verstummt. Luigi rumorte noch immer in der Küche und kämpfte, leise fluchend, mit dem Kaffeefilter. Die Diebin nahm ihren Rucksack. Auf Zehenspitzen glitt sie zur Tür hinaus und war im nächsten Augenblick mit den morgendlichen Schatten der Stadt verschmolzen. Gerade rechtzeitig.

Mit einem vollbeladenen Tablett kam Luigi aus der Küche. „Bitte sehr, meine Herren! Ihr Frühstück!“ Der Ruf verhallte ungehört. Verärgert stellte Luigi das Tablett auf einen Tisch. „Signore Scaloppino? Hotelkritiker hin oder her”, schimpfte Luigi. „Das Frühstück stelle ich den beiden in Rechnung. Und zwar jedem. Doppelt!“ Grinsend betrachtete er die Köstlichkeiten. Schade um das gute Essen, dachte er. Bezahlt wird es ja sowieso. In genießerischer Vorfreude rieb sich der Mann die Hände und setzte sich an den Tisch. Der Kaffee war heiß und stark, der Schinken hauchdünn geschnitten und die Eier perfekt. „Bravissimo, Luigi!“ lobte sich der Mann. Kraftvoll biss er in sein Brötchen – und verschluckte sich prompt.

Hustend und prustend rang Luigi nach Luft und starrte entsetzt auf die Erscheinung auf der Treppe.

Gerda! Sie trug einen grünen Bademantel mit großen Sonnenblumen, hellblaue Plüschpantoffel und auf dem Kopf etwa zwei Dutzend Lockenwickler. In der rechten Hand hielt die Frühaufsteherin drei Handtücher. Luigi schluckte hastig den Rest seines Brötchens hinunter und sprang dienstbeflissen auf. „Guten Morgen, Signora Eisenbeiß. Sie möchten frühstücken?“

Gerda schüttelte den Kopf, so dass die Lockenwickler nur so hin und her flogen. „Nein. Ich frühstücke nicht mitten in der Nacht.“

Luigis Blutdruck schoss fontänenartig in die Höhe. „Selbstverständlich steht Ihnen unser Frühstück bis elf Uhr zur Verfügung“, sagte er förmlich.

„Das will ich auch meinen“, gab Gerda zurück und schwenkte ihre Handtücher. „Ich gehe Plätze im Frühstücksraum reservieren. Wissen Sie, die Ilse, die wo mit mir im Chor singt, die macht das schon seit Jahren so bei den Liegen auf Mallorca.“

„Aber verehrte Signora Eisenbeiß! Sie brauchen mir doch nur zu sagen, welchen Tisch ich für Sie reservieren darf. Dafür bin ich schließlich da.“

Skeptisch sah Gerda den Mann an, überlegte, entschloss sich, bei ihrer Taktik zu bleiben. „Die Ilse, die hat richtig viele Erfahrungen mit dem Ausland. Da verlasse ich mich lieber auf das, was sie mir geraten hat.“ Brüsk drängte sie Luigi zur Seite. „Halten Sie mich nicht länger auf. Ich will die Handtücher hinlegen, bevor die Engländer kommen.“

„Engländer? Bei uns im Hotel wohnen keine Engländer. Nur Deutsche und Italiener.“

„Italiener! Genau das ist das Problem. Ich sage nur ein Wort: Ring!“ zischte Gerda und rauschte in den Frühstücksraum.

Luigi sah ihr aus schmalen Augen nach. Madonna mia! Hoffentlich geht die Woche ohne Mord vorüber! Wie erwartet, hatte Gerda den schönsten Tisch am Fenster reserviert, direkt mit Blick auf den Canal Grande. Dabei hatte Luigi genau diesen Tisch Ricardo Scaloppino geben wollen, um wenigstens einen Pluspunkt für das Hotel zu holen. Andererseits – der Hotelkritiker hatte ihn vorhin auch nicht nett behandelt. Das ist der schlechte Einfluss von diesem Schmierenreporter. Unverständlich, warum sich ein so großartiger Mensch wie Signore Scaloppino mit einem Kerl wie diesem Schulzenberger abgibt.

„Morgen, Chef!“ Francesco fuhr sich mit gespreizten Fingern durch die Haare.

Missbilligend zeigte Luigi auf die Wanduhr. „Francesco! Du bist zu spät!“

Der Page warf einen Blick auf das altmodische Teil und zückte sein Handy. „Uhrenvergleich, Chef. Ich bin pünktlich. Und ich habe sogar noch fünf Minuten bis zum Arbeitsbeginn“, sagte Francesco. „Maria kommt auch gleich. Ich habe sie überholt.“

„Warum hast du sie nicht mitgenommen?“

„Weil meine Gondel kein Schwerlastkahn ist“, grinste Francesco und machte sich schleunigst aus dem Staub, um sich umzuziehen.

Familie Eisenbeiß kam die Treppe herunter. Das heißt, Hermann und Katrin kamen. Gerda schritt! Wie eine Königin!

„Guten Morgen, Katrin“, begrüßte Luigi die Kleine zuerst. „Ich hoffe, du hast etwas Schönes geträumt. Man sagt ja, dass der erste Traum in einem fremden Bett in Erfüllung geht.“

„Nee, mir war die ganze Nacht schlecht“, nuschelte Katrin.

Gerda ging auf Luigi los. „Da sehen Sie, was Sie angerichtet haben.“

„Signora Eisenbeiß?“

„Tun Sie jetzt bloß nicht so unschuldig“, sagte Gerda. „Der Ärger und die Aufregung um meinen GESTOHLENEN Ring ist dem armen Kind auf den Magen geschlagen. Und wo wurde der Ring gestohlen? In IHREM Hotel!“

„Ich denke eher, dass es Katrin von dem vielen Eis schlecht war“, murmelte Hermann.

„Schade, dass ich nichts geträumt habe“, sagte Katrin zu sich selbst. Allerdings so laut, dass es jeder hören konnte. „Aber nicht jeder kann so träumen wie Opa.“

Hermann zuckte zusammen. „Jetzt frühstücken wir!“ rief er betont fröhlich. Hastig schob er Katrin an Gerda und Luigi vorbei in Richtung Frühstücksraum. Gerda ließ den Verschluss ihrer Handtasche zuschnappen und rannte hinterher. „Wir sitzen am Fenster“, rief sie. Hermann, der sich gerade an den ersten Tisch gesetzt hatte, stand wieder auf.

„Ich habe heute Morgen reserviert. Nein, eigentlich fast noch mitten in der Nacht. Zum Glück hat niemand die Handtücher geklaut.“

„Oma! Die gehören doch sowieso dem Hotel.“

„Irrtum, mein Kind.“ Gerda faltete Katrins Serviette auseinander. „Die Handtücher habe ich von zu Hause mitgebracht. Frisch gewaschen und weichgespült.“

Katrin gluckste albern. Hermann betrachtete angestrengt die Gondeln auf dem Canal Grande und vermied es, seine Frau anzusehen. Endlich wusste er, warum der Koffer so schwer gewesen war. Bettwäsche und Handtücher!

Francesco beeilte sich, das Frühstück zu servieren. „Danke, junger Mann“, nickte Gerda. „Wir bedienen und selbst.“ Und sparen das Trinkgeld für dich!

Der Page nickte, stellte die Kaffeekanne auf den Tisch und verschwand hinter seiner Palme. Luigi las wie jeden Morgen ausgiebig die Tageszeitung. So bemerkte niemand, dass ein Gast das Hotel betrat. Er trug ein kariertes Hemd, kurze Hose, Sandalen und ein Basecap. Auf den ersten Blick war es ein Tourist wie viele. Erst auf den zweiten Blick war Porelli zu erkennen. Als Krönung seines Outfits baumelte eine schwarze Herrentasche an seinem Handgelenk und um den Hals eine Kamera. Francesco kam hinter seiner Palme hervor, um die modischen Verfehlungen ausgiebig und aus nächster Nähe zu betrachten.

„Tarnung ist alles“, erklärte der Ermittler. „Als Tourist wird in mir niemand den Privatdetektiv erkennen. Nur so habe ich eine Chance, den Dieb zu überführen.“

Stolz hob Porelli die Kamera an. Auf der Rückseite des Gerätes war ein kleiner Spiegel aufgeklebt. „Das ist meine neueste Erfindung. In diesem Spiegel kann ich genau beobachten, was hinter mir vorgeht, während alle denken, dass der harmlose Tourist fotografiert.“

Francesco tat schwer beeindruckt. „Was Sie nicht alles wissen!“

Porelli warf sich in die magere Brust. „In meinem Job muss man immer die Nase vorn haben. Die kriminellen Subjekte werden schnell merken, dass mit mir nicht zu spaßen ist.“ Der Mann kniff die Augen zusammen, was ihn seiner Meinung nach wie einen Superdetektiv aussehen ließ, ihm aber in Wirklichkeit Ähnlichkeit mit einem Frettchen verlieh. „Sag Familie Eisenbeiß, dass ich eingetroffen bin.“

Francesco huschte am Frühstücksraum vorbei in die Küche. „Maria“, keuchte er, „Maria, das musst du dir ansehen.“ Maria warf pflichtschuldig einen Blick durch den Türspalt auf Porelli. Der hatte sich hinter einer Zeitung verschanzt, in die er zwei Gucklöcher gebohrt hatte.

„Alberner Bengel“, schimpfte Maria und gab Francesco einen Klaps. „Signore Porelli macht nur seine Arbeit.

„Ja“, keuchte Francesco, während er sich Lachtränen aus dem Gesicht wischte. „Aber muss er dabei denn wirklich so komisch aussehen?“

„Er sieht aus wie alle Touristen auf der ganzen Welt“, sagte Maria. „Und jetzt geh endlich und tu, was man dir aufgetragen hat. Avanti!“

Ganz offensichtlich war mit Maria heute nicht gut Kirschen essen. Sie hatte immer so schlechte Laune hatte, wenn ihr Ehemann die Nacht wieder einmal nicht zu Hause verbracht hatte. Francesco nickte und trollte sich in den Frühstücksraum.

Vor Hermann lag ein Reiseführer auf dem Tisch. In Italienisch! Wichtigtuerisch blätterte der Senior darin herum.

Katrin starrte aus dem Fenster auf das trübe Wasser des Canal Grande. „Total ätzend“, murmelte sie. „Boah, ist das doof hier!“

Hermann hatte ein Wort entdeckt, das er verstand. „Mutti, hier in Venedig hat dieser Casanova gelebt“, sagte er.

„Casanova?“ Gerda ließ das Messer, mit dem sie dick Butter auf ein Brötchen gestrichen hatte, fallen. „War das nicht der, der gesagt hat ‚Schau mir in die Augen, Kleines?‘ Das war ein romantischer Film.“ Sie seufzte sehnsüchtig bei dem Gedanken an Humphrey Bogart.

Hermann seufzte auch, wenngleich aus einem anderen Grund. „Nein, das war ‚Casablanca’. Casanova war der mit den vielen Frauen.“

Gerda warf einen raschen Blick auf Katrin. „Vati“, mahnte sie leise, „über so etwas spricht man nicht vor einem Kind.“

Das Kind starrte noch immer aus dem Fenster, neigte den Kopf nach rechts und sagte dabei „doof“. Neigte Katrin den Kopf nach links, hieß es „sciocco“. Immer schneller wurde das Wippen. Die Worte gingen in einen Singsang über. „Doof. Sciocco. Doof. Sciocco.”

„Katrin, du machst mich nervös“, sagte Gerda. „Was ist das überhaupt für ein Wort, das du ständig sagst?“

„Das hat mir Francesco beigebracht“, erklärte Katrin.

„Ich finde es gut, dass du dich an eine Fremdsprache herantraust.“ Hermann streichelte seiner Enkeltochter wohlwollend die Wange, was diese prompt mit einem „Iihh! Lass das, Opa!“ kommentierte.

„Wo war ich stehengeblieben?“ fragte Hermann. „Ach ja, bei Casanova.“

„Da fällt mir ein, was ich dir die ganze Zeit schon erzählen wollte. Der Nachbar von der Ilse, dieser kleine Dicke, lässt sich scheiden. Er hat eine Neue. Und die ist viel jünger als er. Sag mal, hörst du mir überhaupt zu?“

„Natürlich. Die Ilse hat eine Jüngere.“

Gerda war mit dieser Antwort zufrieden, auch wenn sie nicht hundertprozentig das wiedergab, was sie gesagt hatte. Aber das war im Haus Eisenbeiß nichts Ungewöhnliches. Im Laufe ihres langen Zusammenlebens hatte das Ehepaar die Fähigkeit entwickelt, aneinander vorbei zu reden und trotzdem immer zu wissen, was der oder die andere will.

Inzwischen hatte Gerda um sich herum ein Arsenal von Brötchen, Wurst und Käse aufgebaut. „Katrin, wie viele Brötchen möchtest du?“

Katrin unterbrach ihren Singsang. „Kein Brötchen mehr. Ich bin satt.“

„Das ist doch nicht für jetzt.“ Gerda stapelte hauchdünn geschnittenen Parmaschinken auf eine Brötchenhälfte. „Das ist für später, wenn wir unterwegs sind.“

„Mir genügt ein Eis. Opa! Krieg ich ein Eis?“

„Natürlich.“

„Du verwöhnst das Kind viel zu sehr, Hermann“, schalt Gerda. „Wie viele Brötchen möchtest du?“

„Eins.“

„Das soll den ganzen Tag reichen?“

„Das muss es nicht. Wenn ich Hunger bekomme, kaufe ich mir etwas. Hier gibt es an jeder Ecke Imbissstände.“

„Manchmal verstehe ich dich nicht. Warum willst du Geld für etwas ausgeben, das du umsonst haben kannst? Das Essen im Hotel hat schließlich die Zeitung bezahlt.“ Gerda zählte ihre Marschverpflegung. „Drei Brötchen mit Salami, drei mit Schinken – den hätten sie ruhig ein bisschen dicker schneiden können -, drei mit Käse und drei mit so einem komischen Aufstrich. Ich mache sicherheitshalber noch für jeden ein Brötchen mit Rührei. Auch für dich, Hermann!“

Francesco trat an den Tisch. Übertrieben knallte er die Absätze zusammen. „Gnädige Frau, Signore Detektiv Porelli ist eingetroffen.“

„Schmier das fertig“, wies Gerda ihren Mann an. „Und Sie bringen meinem Mann eine Tüte“, sagte sie zu Francesco.

„Eine Tüte. Sehr wohl. Ich glaube, ich rauche auch eine.“

Hermann wartete, bis Gerda und Francesco gegangen waren. Langsam stand er auf. „Ich bin gleich zurück.“

„Willst du nachsehen, ob die heiße Tussi da ist?“ grinste Katrin und schob sich eine Olive in den Mund.

„Blödsinn“, entgegnete Hermann. „Was du dir immer zusammenspinnst! Ich muss zur Toilette.“

Katrin verkniff sich eine Bemerkung. Angeekelt spuckte sie die Olive unter den Tisch. „Igitt!“

„Was soll das heißen, Sie haben ihn noch nicht?“ Gerdas Stimme schallte durch das Hotel. Porelli hockte wie ein Häufchen Elend auf seinem Stuhl. „Wen haben Sie noch nicht? Den Ring oder den Dieb?“ Gerdas Stimme hatte eine Lautstärke erreicht, die selbst Hermann bis eben noch nicht gekannt hatte.

„Mutti, nicht so laut“, mahnte Hermann. „Wir sind schließlich nicht zu Hause.“

Das half. Tatsächlich senkte Gerda die Stimme und wechselte von laut zu rasiermesserscharf. „Ich denke, Sie haben die ganze Nacht gearbeitet?“

Porelli schwieg. Aus seiner Handtasche nahm er ein Stempelkissen und ein weißes Blatt Papier.

„Ich brauche Ihre Fingerabdrücke, Signora Eisenbeiß“, erklärte er.

„Auf keinen Fall! Verdächtigen Sie jetzt meine Frau, ihren eigenen Ring gestohlen zu haben?“

„Nein. Ich möchte Ihre Frau als Diebin ausschließen.“

Mit einem spöttischen Grinsen deutete Gerda auf das Stempelkissen. „DAMIT wollen Sie Fingerabdrücke nehmen? Im Fernsehen sieht das immer viel professioneller aus.“

„Es erfüllt seinen Zweck“, murmelte Porelli.

„Aber nicht bei mir!“ fauchte Gerda.

„Signore Porelli!“ Wütend kam Luigi hinter seinem Tisch hervor. „Unterlassen Sie diesen Lärm. Nicht einmal die Zeitung kann man in Ruhe lesen! Und beeilen Sie sich gefälligst mit Ihren Ermittlungen. Ich glaube nicht, dass Signore Scaloppino unser Haus gut bewertet, wenn ein Detektiv hier ein- und ausgeht.“

Porelli nahm Gerdas linken Zeigefinger, drückte ihn auf das Stempelkissen und dann auf das Blatt. Zu sehen war ein dunkelblauer, verschwommener Fleck.

„Scaloppino ist im Haus? DER Scaloppino?”

Luigi nickte.

„Inkognito.“

Beeindruckt legte Porelli eine Hand auf sein Herz. Dabei bekam das Hemd ein paar Flecken Stempelfarbe ab. Aber die fielen zum Glück in dem wilden Blumenmuster nicht auf.

„Ich werde schweigen wie ein Grab“, versicherte der Privatdetektiv.

„Typisch!“ rief Hermann.

„Was?“

„Dass ihr Italiener euch alle kennt. Alles Mafia!“

Luigi zuckte zusammen. „Pscht, Signore Eisenbeiß! Sagen Sie dieses Wort niemals in der Öffentlichkeit.“

Gerda rubbelte die blaue Farbe von ihren Fingern. „Wollen Sie meinem Mann den Mund verbieten?“ schnauzte sie Luigi an. „Das brauchen Sie nicht. Das mache ich immer noch selbst.“

Fassungslos starrte Luigi die Frau an. Zum ersten Mal regte sich in ihm ein Hauch von Mitleid für Hermann. Ohne den Blick von Gerda und Hermann zu lassen, ging Luigi zu seinem Schreibtisch. Dabei übersah er Katrin, die wie aus dem Nichts aufgetaucht war. Es knallte.

„Aua!“ rief Katrin und rieb sich die Stirn. „Aua!“

Erschrocken beugte sich Luigi zu der Kleinen hinunter. „Ich habe dich nicht gesehen“, stammelte er. „Tut es sehr weh?“

In Sekundenbruchteilen entschied sich Katrin für Ja. Sie brach in ohrenbetäubendes Brüllen aus. „Es tuhuhut sohoho weh! Aua! Aua!”

„Madonna mia! Ich habe dich nicht gesehen, Katrin. Ich kann dir gar nicht sagen, wie leid es mir tut. Ich hole dir Eis.“

„Kein Eis!“ Hysterisch aufschluchzend nahm Gerda die Kleine in die Arme. „Rufen Sie einen Krankenwagen.“

Hermann hatte die Kamera startklar. „Unsere Katrin hatte einen Unfall“, erklärte er den Zuschauern. „Jetzt warten wir auf den Krankenwagen. Katrin! Kannst du sprechen?“

Nicken.

„Sag etwas.“

„Wo bleibt mein Eis?“

„Das Eis! Natürlich! Sofort!“

Luigi rannte in die Küche und drückte Katrin einen Eisbeutel auf die nicht vorhandene Beule/Kratzwunde/Abschürfung auf der Stirn.

„Ich will nicht so eins“, plärrte Katrin. „Ich will ein richtiges Eis!“

„Wo bleibt denn nur der Krankenwagen?“

„Mutti! Sag mal was in die Kamera!“

„Ihre Fingerabdrücke, Signora Eisenbeiß!“

Luigi war kurz davor, zuerst den Verstand und dann die Beherrschung zu verlieren.

„Francesco“, stieß er hervor. „Sag Maria, sie soll den größten Eisbecher machen, den wir in diesem Hotel jemals serviert haben.“

Gerda ließ Katrin los und hielt Francesco zurück. „Moment! Wer soll diesen Rieseneisbecher bezahlen?“

Luigi verbeugte sich leicht in Katrins Richtung. „Die junge Dame ist selbstverständlich eingeladen.“

„Das will ich aber auch meinen“, sagte Hermann hinter seiner Kamera. „Der Urlaub ist schließlich teuer genug.“

„Ich denke, Sie haben alles gewonnen?“ fragte Porelli.

„Das geht Sie nichts an“, fauchte Gerda. „Suchen Sie lieber meinen Ring und den Dieb!“

Gerda schob Katrin zurück in den Frühstücksraum. Der Privatdetektiv sank auf die Knie. „Spurensicherung“, erklärte er wichtigtuerisch. „Obwohl es sehr schwer wird, hier noch etwas Verwertbares zu finden.“ Der letzte Satz galt mit einem vorwurfsvollen Blick Francesco.

Die Eingangstür schwang auf. Carlotta. Mit einem Schlag war der Page hellwach. Heute trug die Frau ein hautenges schwarzes Kleid, das sie wie eine zweite Haut umschloss und eine Handbreit über den Knien endete. Carlotta setzte sich an ihren Lieblingstisch. Amüsiert beobachtete sie unter langen Wimpern, wie Francesco hinter seiner Palme immer nervöser wurde.

„Page”, hauchte Carlotta mit dunkler Stimme. Francesco fühlte, wie sich ihm nicht nur die Härchen auf den Armen aufstellten. Mit hochrotem Kopf trat er an den Tisch.

„Einen Espresso bitte.”

Betont langsam schlug sie die Beine übereinander, Francesco keine Sekunde aus den Augen lassend.

„Espresso“, wiederholte der dümmlich grinsend.

„Si. Prego.“

Linkisch verbeugte sich der Page und verschwand eilig in der Küche. Carlotta lachte still in sich hinein. Süßer Bengel. Ich glaube, in ein paar Tagen habe ich ihn soweit, dass er alles für mich tut. Sie griff nach der Zeitung, dem auf dem Tisch lag und schlug sie auf. Ihr Blick fiel auf eine dicke Schlagzeile. „Sieh mal an“, murmelte Carlotta. Ausführlich wurde in einem Artikel beschrieben, dass die „Katze“ vor zwei Nächten in das teuerste und angeblich sicherste Hotel Venedigs eingedrungen war und etliche Hotelgäste um Schmuck und Bargeld erleichtert hatte. Wie immer war die „Katze“ lautlos gekommen und wieder verschwunden, ohne die geringste Spur zu hinterlassen. Carlotta las den Artikel mit einem wohligen Schauer und zunehmender Begeisterung.

Plötzlich flog ihr die Zeitung in hohem Bogen aus der Hand. Etwas hatte die Frau unsanft angerempelt. Porelli, der wie ein Krebs rückwärts kroch, war über Carlottas lange Beine gefallen.

„Können Sie nicht aufpassen?“ rief Carlotta erbost. Entgeistert starrte sie den Privatdetektiv an. „Andrea! Was machst du denn hier?“

Porelli sprang auf, ohne Rücksicht auf eventuelle Spuren zu nehmen. Mit einem Ruck zog er Carlotta vom Stuhl und nahm sie in seine Arme. „Dich hier zu treffen hätte ich am wenigsten erwartet!“ rief er euphorisch. „Wie lange haben wir uns nicht gesehen? Ein Jahr?“

Carlotta nickte. „Ja. Ein ganzes Jahr. Zwölf Monate. Und glaube mir, es war kein gutes Jahr.“

„Warum hast du nicht angerufen?“ Porelli hatte nur noch Augen für die junge Frau. Gerda und ihr Ring waren vergessen.

Langsam setzte sich Carlotta wieder. „Ich habe nicht angerufen, weil ich Angst davor hatte, wie du reagieren würdest“, sagte sie leise. „Immerhin sind wir im Streit auseinander gegangen.“

Porelli atmete tief ein. „Reden wir nicht mehr davon“, sagte er. „Lass uns von vorn anfangen.“

Mit ungewöhnlich viel Schwung kam Francesco aus der Küche. Sein Gemüt hatte sich soweit beruhigt, dass er Carlotta ihren Espresso servieren konnte, ohne zu hyperventilieren, in Ohnmacht zu fallen und/oder im Gesicht die Farbe eines Feuerlöschers anzunehmen. Allerdings fiel ihm das Lächeln aus dem Gesicht, als er Porelli neben Carlotta sitzen sah. Für Francescos Geschmack rückte dieser komische Kauz der Frau ziemlich dicht auf die Pelle, was die aber nicht zu stören schien. Die Tasse klirrte laut, als Francesco den Espresso vor Carlotta abstellte. Ohne seine Angebetete eines Blickes zu würdigen, nahm er seinen Platz hinter der Palme wieder ein. Der Kleine ist ja eifersüchtig.

„Entschuldige, was hast du gefragt?“

„Ich wollte wissen, ob du heute Abend schon etwas vorhast oder ob wir zusammen essen gehen?“ wiederholte der Mann seine Frage.

„Nein. Wenn du Lust hast, dann komm doch zu mir nach Hause. Dort sind wir ungestört und können in aller Ruhe über alte Zeiten plaudern.“ „Sehr gern. Bis später.“ Porelli hauchte der Frau einen Kuss auf die Wange. „Ich freue mich.“ Leichtfüßig verließ Carlotta die Halle.

Nur die Bühne ist zu wenig (I)

Paula Rahm-Roth

Paperback

272 Seiten

ISBN-13: 9783755757979

Verlag: Books on Demand

Erscheinungsdatum: 28.12.2021

Sprache: Deutsch

Farbe: Nein

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