„Die Hexenmacher von Gronitz“

Gegen Ende des 18. Jahrhunderts lebt eine junge Frau mit ihrem Vater in einer kleinen Stadt. Der angesehene Arzt hat seiner Tochter alles beigebracht, was sie als Heilerin und Hebamme wissen muss. Bald wird Cornelia sowohl vom Landesherrn als auch Härlingers größtem Konkurrenten begehrt. Von ihrem Vater so erzogen, dass sie immer ihre Meinung frei äußert, lehnt Cornelia beide Angebote ab.

Als eine Reihe von Unglücksfällen das Fürstentum heimsucht, ist es der machtbesessene Bischof, der dringend ein Exempel statuieren will, um Ruhe und Ordnung wiederherzustellen. Die Heilerin, die in­zwischen Vater und Ehemann verloren hat und ohne männlichen Schutz dasteht, wird zum Spielball der Mächtigen.

Paula Rahm-Roth (Elke Rahm)

„Die Hexenmacher von Gronitz“

2021

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über dnb.dnb.de abrufbar.

Herstellung und Verlag: BoD – Books on Demand, Norderstedt

ISBN 9783755752080

Vorwort

Die Idee für diese Geschichte hatte ich schon vor langer Zeit, aber es dauerte mehr als fünf Jahre, bis ich mich endlich überwinden konnte, den Figuren Leben einzuhauchen.

„Die Hexenmacher von Gronitz“ ist eine fiktive Erzählung. Personen und Handlungen sind frei erfunden, Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind zufällig und nicht beabsichtigt.

Die Örtlichkeiten im Buch wurden teilweise von real existierenden Gebäuden und Orten inspiriert.

Ich wünsche unterhaltsame, nachdenkliche, spannende, lustige, traurige Lesemomente.

Ihre Paula Rahm-Roth

1787

MDCCLXXXVII

Nicht weil es schwer ist, wagen wir es nicht,

sondern weil wir es nicht wagen, ist es schwer.

                                                                                                  Seneca

Cornelia schloss die Tür der Hütte des Bauern Reichert hinter sich und lehnte sich schwer atmend gegen das rissige Holz. Nur ein paar Meter entfernt rauschte die Welster, auf der Eisbrocken trieben. Der Fluss wirkte dunkel und bedrohlich, die Stromschnellen unheil-verkündend. Ein eisiger Wind stach wie tausend Nadeln auf der Haut. Die junge Frau zog den Umhang aus dicker brauner Wolle fester um sich. Sie war hochgewachsen und schlank mit Rundungen an den richtigen Stellen. In Gronitz gab es so manchen Burschen, der sie gern zum Altar geführt hätte, aber bisher hatte es niemand geschafft, ihr Herz zu erobern. Von ihrem Vater, einem angesehenen Arzt, hatte sie viel über Kräuter und Pflanzenheilkunde gelernt, so dass ihr dieses Wissen nicht nur die Achtung der einfachen Menschen, sondern auch die des Fürsten einbrachte.

Die Gronitzerinnen und die Frauen in den umliegenden Dörfern schätzten Cornelia als Hebamme. Nur sehr kurz hatte sie alles über Geburtshilfe bei der alten Els lernen können, denn die Hebamme war an einer Blutvergiftung gestorben. Zwar stand ihr der Vater bei medizinischen Fragen zur Seite, aber einem Kind auf die Welt zu helfen war ihm als Mann verboten.

Eine Leidenschaft der jungen Frau war die Astronomie. Cornelia interessierte sich für die Sterne und die Planeten, die Jahreszeiten, den Kreislauf der Natur und alles, was in der neuen Zeit nicht mehr totgeschwiegen wurde. Oft stand sie abends am Fenster, den Blick in den Nachthimmel gerichtet und vor sich auf der Fensterbank ein Blatt Papier, auf dem sie ihre Beobachtungen notierte.

Die Sonne war verschwunden. Der Himmel hatte sich mit tiefhängenden grauen Wolken bezogen, die neuen Schnee bringen würden. Vor Cornelias Augen begann alles zu verschwimmen. Es waren Tränen der Trauer und Hilflosigkeit und Tränen der Wut über ihr eigenes Versagen. Heute war sie ganz sicher zum letzten Mal bei dem kleinen Sebastian gewesen. Der jüngste Sohn des Bauern Reichert litt seit Wochen an einem schweren Husten. Sämtliche Kräuter und Tinkturen hatten nur vorübergehende Linderung gebracht. Die Hustenanfälle waren immer stärker geworden, und seit der Kleine Blut spuckte, wusste die Frau, dass es keine Hoffnung mehr gab. Sebastian war inzwischen so schwach, dass er sich nicht einmal mehr auf seiner Liegestatt aufrichten konnte. Leise hatte die Heilerin Friedrich, den ältesten Sohn der Reicherts, gebeten, den Priester von Gut Rosenthal mit dem geweihten Öl zu holen.

Cornelia atmete tief durch, wischte sich die Tränen ab und ging zurück in die Hütte.

Drinnen war es genauso eisig wie draußen. Der Atem stieg als weiße Wolken auf. Eine Kerze erhellte den winzigen Raum mit ihrem flackernden Licht. Das Fenster waren mit Brettern vernagelt, um die Kälte etwas aussperren zu können. Dieser Winter war früher hereingebrochen als in anderen Jahren und jetzt, Ende Jänner, wurden die Vorräte knapp, wenn sie nicht gar schon zur Neige gegangen waren. Mehl, Hirse, getrocknetes Fleisch, Brennholz – all das schmolz so schnell dahin wie Schnee in der Frühlingssonne.

Der Raum war völlig leer. Alles, was aus Holz war, hatten die armen Leute verbrannt. Nur die geschnitzten Löffel und eine große Schüssel waren übriggeblieben. In der Ecke meckerte die Ziege leise vor sich hin. Das Tier war bis auf die Rippen abgemagert und gab schon lange keine Milch mehr.

Matthes und seine Frau Barbara standen an der Wand und starrten auf den Fußboden.

Sebastian lag auf seinem Strohsack. Kaum merklich hob und senkte sich seine Brust. Die sechsjährige Anna und ihr zwei Jahre älterer Bruder Lukas saßen neben dem Kleinen. Cornelia tupfte den Fieber-schweiß von der Stirn des Kindes und befeuchtete seine Lippen mit etwas geschmolzenem Schnee.

„Muss Sebastian wirklich sterben?“ Lukas sah die Heilerin mit großen Augen an. „Wenn er stirbt, geht er dann dorthin, wo es schön ist?“

„Ja“, sagte Cornelia. „Dein Bruder wird seinen Platz im Paradies einnehmen.“

Die Bäuerin schluchzte leise.

„Sei still, Frau“, brummte Matthes. „Der Sebastian, der hat das Elend auf dieser Welt bald hinter sich.“

Mit Schwung flog die Tür der Hütte auf. „Seid gegrüßt, ihr braven Leute.“ Das Gesicht des Priesters war vom Winterwind gerötet, der Bart glänzte fettig. Friedrich hatte ihn beim Essen gestört. „Wo ist der Kranke?“

Cornelia trat zur Seite. Der Geistliche holte aus seinem Gewand eine kleine Flasche und trug mit hastigen Bewegungen das heilige Öl auf Stirn und Wangen des Jungen auf. Dazu murmelte er ein paar unverständliche lateinische Worte, verschloss die Flasche mit dem Öl und schob sie zurück in seine Tasche. „Ihr braven Leute habt alles getan, was in eurer Macht stand“, sagte er. „Doch jetzt, da es dem Allmächtigen gefällt, dieses unschuldige Kind zu sich zu rufen, müssen wir uns dem Willen des Herrn beugen.“

Auffordernd hielt er die Hand auf. Cornelia zog unter ihrem Umhang einen kleinen Lederbeutel hervor und legte drei Kreuzer in die Hand des Priesters. „Ich danke Euch für Eure Mühe, an einem solch ungemütlichen Tag den beschwerlichen Weg hierher auf Euch zu nehmen.“

„Ja, ja, man tut, was man kann“, murmelte Seibt. Er warf einen letzten scheuen Blick auf die Familie und verließ die Hütte, um zurück zu seiner Gänsekeule zu eilen.

Cornelia tastete nach Sebastians Puls. Das kleine Herz hatte auf-gehört zu schlagen.

„Morgen früh schicke ich Johannes“, sagte sie leise. „Er mag euch bei den Vorbereitungen für die Beerdigung behilflich sein.“

Friedrich, Anna und Lukas weinten still vor sich hin. Schließlich brach Bauer Reichert das Schweigen. „Habt Dank für alles.“

Cornelia nahm ihre Tasche und machte sich auf den Heimweg durch den Abend. Rosafarbene Wolken kündeten eine weitere eisige Nacht an. In der Dämmerung, die jetzt rasch hereinbrach, verschwanden Umrisse und Konturen, wurde Vertrautes plötzlich fremd und bedrohlich. Der Schnee leuchtete hell.

Bald hatte sie das südliche Stadttor erreicht. Kräftig schlug sie mit dem eisernen Riegel gegen das Holz.

„Wer ist da?“ fragte der Torwächter.

„Cornelia, des Meister Härlinger Tochter.“

Der Alte trat aus seiner Stube und leuchtete Cornelia mit einer Laterne ins Gesicht. „Wo kommt Ihr zu dieser späten Stunde her?“

„Ich war beim Bauern Reichert. Sein jüngster Sohn ist von uns gegangen.“

Ohne ein weiteres Wort öffnete der Wächter den Eingang und ließ die Frau in die Stadt. Er schlug das Tor zu, legte den schweren Riegel vor und schlurfte zurück in die Wachstube. „Es ist so kalt, dass einem der Rotz an der Nasenspitze gefriert“, sagte er zu seinem Gehilfen. „Bete, dass niemand mehr in die Stadt rein oder raus will und wir hier am Ofen sitzenbleiben können.“

*

Mitte März begann der Winter endlich dem Frühling zu weichen. Die Sonne stieg jeden Tag höher und gewann an Kraft. Von den Dächern tropfte es. Der Schnee in den Gassen schmolz zu schmutzigen Haufen zusammen. Überall erwachte die Natur. Die ersten Blumen blühten, und an den Bäumen zeigten sich grüne Triebspitzen. Über Gronitz lag eine Heiterkeit, die selbst dem schlechtgelauntesten Menschen ein kleines Lächeln entlockte.

Cornelia stieß die hölzernen Fensterläden auf und atmete tief die würzige Luft ein. Härlingers Haus war eines der größten und schön-sten am Marktplatz. Eine Durchfahrt führte in einen Innenhof, der von einer Scheune und dem Ziegenstall auf der einen und dem Wohnhaus auf der anderen Seite begrenzt wurde. Das Dach war mit Schiefer gedeckt und glänzte in der Sonne wie schwarzer Lack. An den Hof schloss sich ein kleiner Garten an, in dem das Gemüse für die Küche wuchs. Der Blick aus den bleiverglasten Fenstern der Studierstube ging direkt auf den Marktplatz und zum Rathaus. Dieser Raum, in dem sich bis unter die Decke Bücher und Schriftrollen stapelten, war der Lieblingsplatz von Vater und Tochter. Ein Schreibpult war mit den feinsten Papieren und den besten Federn ausgestattet. Hier schrieb der Arzt seine Rezepte nieder, hier fertigte Cornelia Abschriften an oder zeichnete Blüten von Heilpflanzen.

Jetzt sah die junge Frau amüsiert zu, wie auf dem Marktplatz die Händlerinnen und Händler mit ihren Kunden stritten.

„Ich sage dir, das sind die besten Hühner“, rief die alte Gunhilde und schwenkte eine weiße Henne an den Füßen durch die Luft. „Im ganzen Land findest du nichts Besseres.“

„Das Vieh ist so mager, dass man es nicht einmal rupfen kann“, schimpfte Gernot, ein vierschrötiger Knecht, der jeden Tag die Einkäufe für die Küche des Fürsten besorgte. „Du Halsabschneiderin solltest dich schämen.“

Gunhilde tat beleidigt. „Du musst ja dieses wunderbare, gut gewachsene fette Huhn nicht kaufen. Aber wie du Fürst Orlando erklärst, warum er vor einem leeren Teller sitzt, das möchte ich gern hören.“

„Gib schon her!“ Gernot griff nach dem Huhn und stopfte es in seinen Korb. „Hier hast du einen Kreuzer. Mehr ist das Vieh nicht wert.“

Gunhilde ließ das Geld in ihrer Rocktasche verschwinden und schenkte Gernot ein zahnloses Lächeln. „Verbindlichsten Dank. Es freut mich immer wieder, mit dir Geschäfte zu machen.“

Der Knecht brummte etwas in seinen Bart und ging zum Bäcker, um mit ihm über ein Brot zu feilschen.

Gunhilde schob mit einer Handbewegung eine Haarsträhne hinter ihr Ohr und griff sich das nächste Huhn. „Fettes Federvieh, gut gewachsen, ein Gaumenschmaus für jeden Tisch“, plärrte sie über den Marktplatz.

Noch immer stand Cornelia am Fenster und hatte Mühe, sich das Lachen zu verbeißen. Es war stadtbekannt, dass Gunhilde und Gernot einander hassten wie die Pest, aber trotzdem nicht voneinander lassen konnten. Als sich die Händlerin vor einem Jahr mit dem Messer in die Hand geschnitten hatte, hatte Gernot die Frau kurzerhand auf die Arme genommen, in Meister Härlingers Praxis gebracht und mitten auf den Behandlungstisch gesetzt.

Sebaldus Härlinger war in dem kleinen Ort ein angesehener Arzt. Nach dem Studium der Medizin an einer Universität mit aus-gezeichnetem Ruf hatte er als Feldarzt im Krieg so viel Leid und Elend gesehen, wie er sich nie hätte vorstellen können. Als endlich Frieden herrschte, war er ohne Umwege nach Gronitz zurückgekehrt, hatte seine Praxis eröffnet und geheiratet. Im darauffolgenden Jahr kam Cornelia zur Welt. Die Praxis lief gut; das Haus am Marktplatz wurde größer und schöner.

Doch das Glück sollte nicht lange währen. Als Cornelia vier Jahre alt war, starb ihre Mutter bei einer Fehlgeburt.

Anders, als es sonst üblich war, gab Härlinger seine Tochter nicht in ein Kloster, sondern übernahm ihre Erziehung selbst.

Ein mit Holz beladener Wagen rumpelte über das Kopfsteinpflaster und bog in die Gasse ein, die hinauf zum Schloss führte. Die Heilerin wandte sich vom Fenster ab. Auf sie wartete Arbeit. In einer Vase auf dem Tisch standen die ersten Kräuter des Jahres. Vorsichtig zupfte Cornelia einen Stängel Huflattich heraus und legte ihn auf den Tisch. Aus dem Schreibpult nahm sie einen Bogen Papier und eine Feder. Sie wollte die Blüte detailgetreu zeichnen und der umfang-reichen Sammlung von Kräutern und Heilpflanzen hinzufügen. Gerade setzte sie zum ersten Strich an, als sie hörte, dass eine Kut-sche vor dem Haus hielt.

„Vater!“ Mit einem Freudenschrei fiel Cornelia dem älteren Mann um den Hals. „Vater! Welche Freude, Euch zu sehen. Ich hatte Euch erst im nächsten Monat zurückerwartet. Erzählt! Wie waren die Dispute mit den Gelehrten? Habt Ihr die Kunstwerke Michelangelos gesehen? Und Berninis? Und…“

„Cornelia!“ Lachend befreite sich Härlinger aus der Umarmung seiner Tochter. „Ich war über vier Monate fort. Jetzt lass mich doch erst einmal wieder zu Hause ankommen. Stell die Sachen dort an der Hauswand ab“, wies er den Fuhrknecht an, der große Körbe in der Hand trug.

„Ist recht, Meister Härlinger.“

„Hier, für deine Mühe.“

„Dank Euch, Meister.“ Zufrieden sah der Knecht auf den Taler in seiner Hand. Er stieg auf den Kutschbock, griff nach den Zügeln und schnalzte mit der Zunge.

„Vater! Ich kann es noch gar nicht fassen, dass Ihr zurück seid. Ihr müsste mir alles, aber wirklich alles erzählen.“

Härlinger schob seine Tochter in das Studierzimmer. „Zum Erzählen haben wir später viel Zeit. Jetzt möchte ich dir etwas geben. Es ist ein Geschenk von Signore Cappuletti.“

„Ihr habt Signore Cappuletti getroffen?“ Cornelias Augen wurden groß wie Untertassen. „DEN Signore Cappuletti?“

„Ja. Ich habe ihn nicht nur getroffen, sondern ich habe sogar mit ihm in seinem Landhaus bei Florenz gespeist“, erklärte Härlinger stolz. „Das hier hat er mir für dich mitgegeben. Mit den besten Grüßen an die bezaubernde Signorina Cornelia.“ Vorsichtig holte er aus seiner ledernen Umhängetasche eine schmale lange Schachtel und reichte sie seiner Tochter.

„Aber Signore Cappuletti kennt mich doch gar nicht.“

„Ich habe ihm ein Bild von dir gezeigt“, schmunzelte Härlinger.

Aufgeregt öffnete Cornelia die Schachtel. „Oh!“ Mit leuchtenden Augen betrachtete sie das mit Messing und Ebenholz verzierte Fernrohr. „Es ist wunderschön. Ich werde noch heute Signore Cappuletti schreiben und ihm meinen Dank übermitteln.“

„Tu das, mein Kind. Der alte Gauner wird sich über eine Nachricht von dir sicher freuen. Doch jetzt mach bitte deinem alten Vater etwas zu essen. Ich komme vor Hunger fast um.“

Tief versteckt in den Wäldern lag das Kloster der Barmherzigen Brüder. Durch das zweiflügelige Tor gelangte man zuerst in einen Garten. An der rechten Mauer standen Apfel und Birnenbäume in Reih und Glied. Im Frühling waren die rohen Mauersteine nicht mehr zu sehen hinter den rosa und weißen Blütenwolken. Im Herbst trugen die Bäume so viele Früchte, dass die Äste zu brechen drohten. Die Luft war erfüllt vom Summen der Bienen, denn der Honig aus den zahlreichen Bienenstöcken war weit über die Landesgrenzen hinaus begehrt und bildete eine der Einnahmequellen des Klosters.

Mehrmals am Tag rief die Glocke zum Gebet. Im Kirchenschiff standen rechts und links des Mittelganges dunkle Bänke. Der Gang führte direkt zum Altar, der nichts anderes war als ein großer Steinblock, auf dem in vollendeter Steinmetzkunst der Leidensweg Jesus dargestellt war. Durch die hohen, buntverglasten Fenster fiel selbst im Sommer nur wenig Licht, so dass die Klosterkirche in ihrer Dämmerung stets einschüchternd und bedrohlich wirkte.

Direkt von der Kirche aus führte der Kreuzgang zu den Wohnräumen der Mönche. Die Zellen waren karg eingerichtet und dienten ausschließlich zum Schlafen.

Auf der rechten Seite des Klosters befand sich das Refektorium, wo an langen Tischen die einfachen Mahlzeiten eingenommen wurden. Über eine schmale Wendeltreppe aus Stein gelangte man in den oberen Teil des Hauses, in die Bibliothek. Nur vom Abt höchst-persönlich ausgewählte Mönche hatten hier Zutritt, barg doch die Bibliothek jahrhundertealte Schriften über die Natur; Schriften, die niemals in die Öffentlichkeit gelangen durften.

Die Mönche lebten zurückgezogen und besuchten nur einmal im Monat den Markt in Gronitz, um Honig und andere Dinge, die die im Kloster hergestellt wurden, zu verkaufen.

Doch der Geist der neuen Zeit drang allmählich auch in diese Mauern ein. Die jüngeren Ordensbrüder, die auf den Markt fuhren, sahen und hörten Dinge, die sie im Kloster nie erfahren hätten.

Einer von ihnen war Karolus von Alsenberg, der jüngste Spross einer Adelsfamilie. Leider war Karolus mit den Regierungsmethoden seines Vaters nicht immer einverstanden gewesen, so dass ihn dieser kurzerhand in das Kloster gesteckt hatte. Anfangs hatte sich der Junge heftig dagegen gewehrt, aber inzwischen fand er das Leben in seiner gleichmäßigen Geruhsamkeit sehr angenehm. Da Karolus einer der wenigen war, die die lateinische Sprache perfekt beherrschten, hatte ihn der Abt schon nach kurzer Zeit zum Bibliothekar ernannt. Die Bücher waren die besten Freunde des jungen Mannes. Er hütete sie wie sein Leben und wurde fuchs-teufelswild, wenn er sah, dass einer der Kopisten nicht sorgfältig mit ihnen umging.

„Bruder Karolus!“ Die sonore Stimme erfüllte den ganzen Raum. Der junge Mönch sprang hastig auf. Ein stechender Schmerz durchzuckte seinen linken Fuß. Bemüht, sich nichts anmerken zu lassen, neigte er demütig den Kopf. „Ehrwürdiger Abt!“

„In Gronitz ist Markt“, sagte der Abt. „Du gehst mit Bruder Laurus hin und bietest unseren Honig feil. Auch können wir gut einige geflochtene Körbe und tönerne Krüge verkaufen.“

„Natürlich, Ehrwürdiger Abt. Sollen wir etwas aus Gronitz mitbringen?“

„Nein. Unsere Vorratskammern sind voll, wie ich mich selbst überzeugen konnte. Bringt Geld mit, um unsere Kasse aufzufüllen. Und nun geh und hilf Bruder Laurus.“

Karolus nickte. So schnell er konnte, lief er den Kreuzgang entlang zu den Ställen. Laurus und ein blutjunger Novize hatten die beiden Pferde schon vor den Wagen gespannt und waren dabei, gepressten Honig aufzuladen.

„Ich wüsste Besseres, als den ganzen Tag mit dir zu verbringen“, knurrte Laurus statt einer Begrüßung.

„Glaubst du, ich habe darum gebeten, mit dir auf den Markt fahren zu dürfen?“ Karolus war von der Vorstellung ebenso wenig be-geistert, herrschte doch zwischen ihm und Laurus ein seit Jahren schwelender Konflikt, der auf unterschiedlichen Ansichten in Glaubensfragen beruhte. „Es ist eine Entscheidung des Ehrwürdigen Abtes, der weder du noch ich uns entziehen können. – Vorsicht!“ Im letzten Augenblick fing Karolus ein großes Stück Honig auf, das dem Novizen aus der Hand gerutscht war. Der Junge wurde rot und senkte beschämt den Kopf.

„So wirst du Gott niemals richtig dienen“, schimpfte Laurus. Das kleine Missgeschick war ihm gerade recht gekommen, um seinem Ärger Luft zu machen.

„Beruhige dich“, mischte sich Karolus ein. „Es ist doch gar nichts passiert.“

„Aber es hätte etwas passieren können!“ Wütend stapelte Laurus die geflochtenen Körbe ineinander.

Karolus zwinkerte dem Novizen zu. Ein zaghaftes Lächeln war die Antwort. „Binde alles gut fest“, sagte er. „Die Straße nach Gronitz ist schlecht, und wir wollen doch keine beschädigten oder kaputten Waren verkaufen. Ich komme gleich zurück.“

„Wohin willst du noch, Bruder Karolus?“ rief Laurus. Er saß schon auf dem Kutschbock und hatte die Zügel in der Hand.

„Mich plagt ein menschliches Bedürfnis“, erklärte Karolus. „Es wäre sehr freundlich von dir, wenn du auf mich warten würdest.“

Der andere brummte etwas Unverständliches. Mit gerunzelter Stirn sah er Karolus nach, wie er über den Hof und durch den Kreuzgang humpelte und schließlich hinter einer Tür verschwand.

Minuten später rumpelte der Wagen auf Gronitz zu.

Karolus saß zwischen den Körben, zog die rechte Sandale aus und betrachtete seinen schmerzenden Zeh. Der Nagel war von einer dicken Schicht Eiter umgeben. Jede noch so kleine Berührung schmerzte höllisch. Vorsichtig drückte der Mönch ein Stück Tuch auf den Zeh, zog die Sandale wieder an und stöhnte leise.

Laurus drehte sich um. „Warum jammerst du?“ fragte er über die Schulter.

„Mein Zeh hat sich entzündet und schmerzt“, murmelte Karolus. „Seit Tagen kann ich nicht richtig laufen.“

„Na und?“ Laurus kannte Mitgefühl nur, wenn es um seine Person ging. „Wenn du Schmerzen hast, dann geh halt zum Arzt.“

„Das werde ich auch tun“, brummte Karolus. Er zog die Kapuze seiner Kutte über den Kopf, schob die Hände in die Ärmel und versuchte, mit Gebeten den pochenden Schmerz zu lindern.

*

Durch die geschlossene Tür von Härlinger Schlafstube klang lautes

Schnarchen. Leise ging Cornelia in die Küche, um die Morgensuppe zu kochen und ein Brot zu backen. Ein Lied summend, holte sie alle Zutaten aus der Speisekammer und begann, Karotten zu schaben. Es sollte eine kräftige Suppe mit Fleischfitzelchen werden. Das Stück Schweinebauch hatte sie schon gestern in einen Sud aus Essig und Senf eingelegt, um ihm einen ganz besonderen Geschmack zu geben. Im Herd knackte ein Holzscheit. Die Hitze war jetzt genau richtig. Vorsichtig schob sie den Brotlaib in den Backofen. Dann stellte sie den Topf mit den Suppenzutaten auf den Herd. Schon nach kurzer Zeit erfüllte würziger Duft den Raum.

Allmählich erwachte in Gronitz der Tag. Die ersten Webstühle be-gannen zu klappern. Entlang der Welster stiegen aus den Färbereien Rauchfahnen auf, wenn die Farbe für die Stoffe erhitzt wurde.

Das Brot war fertig. Cornelia zog es aus dem Backofen und legte es zum Abkühlen auf den Tisch. Den Topf mit der Suppe schob sie zur Seite, um sie auf den gusseisernen Platten warm zu halten.

Jetzt griff die Frau nach ihrem Korb und warf ein leichtes Tuch um die Schultern. Sie wollte die frühe Stunde nutzen, um Kräuter auf der großen Wiese vor dem westlichen Tor zu sammeln. Allmählich gingen ihre getrockneten Vorräte für Salben und Tinkturen zur Neige.

Das Geräusch von Schritten ließ Cornelia aufhorchen. Neugierig sah sie aus dem Fenster. Über den Marktplatz rannte ein Junge. Vor dem Haus des Arztes blieb er stehen. Cornelia beugte sich aus dem Fenster. „Willst du zu mir?“

„Seid Ihr die Heilerin?“

„Ja.“

Der Junge nickte erleichtert.

„Ich habe dich noch nie in Gronitz gesehen“, sagte Cornelia, während sie die Haustür hinter sich zuzog.

„Ich bin Simon. Meine Schwester und ich leben erst seit letztem Monat hier. Ich bin Gärtnergehilfe bei Seiner Durchlaucht“, sagte der Junge. Nervös trampelte er auf der Stelle. Seine Haare standen verschwitzt nach allen Seiten ab. Über der rechten Augenbraue klaffte eine breite Wunde.

„Komm mit in das Behandlungszimmer“, sagte Cornelia. „Ich muss deine Wunde nähen, sonst hast du dein Leben lang eine Narbe.“

Simon schüttelte den Kopf. „Ich bin nicht wegen meiner Wunde hier, Meisterin. Erdmuthe, meine Schwester, braucht Hilfe. Sie… sie bekommt ein Kind.“

„Ich verstehe.“ Cornelia ging zurück ins Haus und tauschte ihren Korb gegen die Tasche, die stets auf einem kleinen Tisch bereitstand und alles enthielt, was sie für die Geburtshilfe brauchte.

„Niemand weiß, dass Erdmuthe bei mir ist“, sagte Simon leise. „Das Kind… Es waren drei betrunkene Fuhrleute.“

„Und daraufhin hat man euch aus dem Dorf gejagt?“

„Ja. Unsere Eltern sind beide tot. Erdmuthe hat sich immer um mich gekümmert. Wenn das Kind da ist, wird sie es ins Kloster geben und wie ich um eine Anstellung bei Seiner Durchlaucht bitten.“ Simon griff nach Cornelias Hand. „Wir müssen uns beeilen!“

„Keine Sorge. Wir werden rechtzeitig bei deiner Schwester sein.“

Inzwischen hatten sie die kleine Hütte am Schlossberg erreicht. Die Fenster waren winzig, aber mit Blumen geschmückt. Die Tür war weit geöffnet. Cornelia zog den Kopf ein, um sich nicht den Kopf an der niedrigen Zimmerdecke anzustoßen.

In der blitzblanken Stube lag auf dem Strohsack eine junge Frau. Eigentlich war es ein Mädchen, nicht älter als vierzehn Jahre. Das kreidebleiche Gesicht war von dicken Schweißtropfen bedeckt. Erdmuthe stöhnte und griff immer wieder nach ihrem Bauch.

„Simon, geh hinaus und mach die Tür zu!“ befahl Cornelia.

„Aber ich…“

„Tu, was ich dir gesagt habe! Warte vor dem Haus!“

Simon warf einen scheuen Blick auf seine Schwester. Gehorsam ging er hinaus, schloss leise die Tür und setzte sich voller Angst auf die Schwelle.

Das südliche Stadttor war wie an jedem Markttag weit geöffnet. Die beiden Wachen kannten den Wagen des Klosters und winkten ihn ohne Fragen durch.

„Gott zum Gruße“, rief Laurus dem Marktmeister zu, der die Plätze für die Händler vergab.

„Ah, Ihr seid es, Bruder Laurus“, brummte Habel. „Was bringt Ihr uns heute?“

„Honig, Tonkrüge und Körbe“, gab Laurus zur Antwort. „Und einen Jammerlappen.“

Flink watschelte der Alte um den Wagen herum. „Bruder Karolus“, rief er erfreut. „Gott zum Gruße!“

„Gott zum Gruße, Meister Habel!“

Der Marktmeister betrachtete den Mönch und schüttelte den Kopf. „Ihr sehr bleich aus“, sagte er. „Bereitet Euch etwas Sorgen?“

„Es ist nichts Wichtiges“, sagte Karolus nach einem kurzen Blick auf Laurus.

„Fahrt euren Wagen dort hinüber zwischen den Tuchhändler und die Gemüsefrau.“ Habel deutete auf die gegenüberliegende Seite des Platzes. „Ich wünsche euch gute Geschäfte.“

„Danke, Meister Habel.“

Vorsichtig lenkte Laurus die Pferde durch das geschäftige Treiben. Er stieg vom Kutschbock und griff nach den beiden Hafersäcken, die unter der Sitzbank lagen. Die Tiere schnaubten zufrieden und kauten langsam ihr Futter.

Während Laurus die Pferde versorgte, hatte Karolus vom Wagen zwei Hocker geholt. Er stellte sie auf und legte ein großes Brett darüber. Auf die eine Seite kamen die geflochtenen Körbe, auf die andere Seite in großen Schalen die Honigplatten. Die Tonkrüge blieben auf dem Wagen. Schnell stellten sich die ersten Interessenten ein. Es waren die Tratschweiber, die jeden Marktstand ausgiebig be-gutachteten, ihre Meinung abgaben und nichts kauften.

„Laurus“, rief Karolus hinüber zu dem anderen, der in ein Gespräch mit dem Tuchhändler verwickelt war. „Ich gehe zu Meister Härlinger.“

„Aber natürlich, Eure Empfindlichkeit“, höhnte Laurus. „Geh nur und sieh zu, wie du deine zarte Haut retten kannst.“

Härlinger erwachte von seinem eigenen Schnarchen. Benommen blinzelte er und hatte kurz Schwierigkeiten, sich zurechtzufinden. Durch das Fenster schien die Sonne. Er setzte sich auf, fuhr sich mit allen zehn Fingern durch die Haare und brummte. Allmählich verschwand der wirre Traum. Der Mann schlüpfte in die Pantoffel, die seine Tochter ihm genäht hatte und tappte in die Küche, um mit einem Schluck Wasser den schalen Geschmack in seinem Mund zu vertreiben.

„Cornelia? Cornelia, wo bist du?“

Es blieb still. Härlingers Blick fiel auf den Kräuterkorb, der auf seinem Platz stand. Dafür fehlte die Hebammentasche.

„Das kann dauern.“ Der Mann goss aus einem Krug Wasser in einen Becher, trank in durstigen Zügen und beschloss, noch für ein Stündchen wieder ins Bett zu gehen. Der Lärm und das Geschrei der Händler vom Markt erschien ihm heute unnatürlich laut und verursachte ihm körperliches Unbehagen.

Erschrocken zuckte er zusammen. Jemand schlug den schweren Eisenriegel gegen die Haustür. „Bin nicht zu Hause“, brummte der Arzt. Als habe der Besucher ihn gehört, verstummte das Klopfen, um gleich darauf noch lauter zu werden.

„Bin immer noch nicht zu Hause“, murmelte Härlinger. Doch seine Ehre als Arzt und der Schwur, den er allen gegeben hatte, die Hilfe brauchten, ließen ihn zur Tür schlurfen. Er öffnete sie einen kleinen Spalt.

„Wer ist da?“

„Bruder Karolus.“

„Bruder Karolus?“ Dunkel erinnerte sich der Arzt an den jungen Mönch. „Was wollt Ihr? Habt Ihr Euch wieder einen Holzsplitter in den Finger gerammt?“

„Nein“, kam es kläglich zurück. „Ein Zeh ist vereitert. Ich kann vor Schmerzen kaum noch laufen.“

„Macht Euch einen Umschlag von frischem Weißkohl. Das wird die Pein lindern und die Entzündung abklingen lassen.“

„Ich würde Euch nicht belästigen, wenn ich mir selbst zu helfen wüsste. Außerdem soll Eure Hilfe nicht umsonst sein.“

Härlinger seufzte. Der Bruder war erstaunlich hartnäckig. Das zusätzliche Stündchen Schlaf löste sich in Luft auf. Schlecht gelaunt öffnete der Arzt die Tür. „Will Euren Süßkram nicht. Euer Honig verursacht mir Zahnschmerzen.“

„Keine Süßigkeiten, Meister Härlinger.“ Verstohlen sah sich Karolus nach möglichen Lauschern um. „Ich habe etwas, das Euch viel mehr interessieren wird.“ Langsam zog er unter seiner Kutte eine Schriftrolle hervor. „Es sind alte Aufzeichnungen über Sonnen-finsternisse.“

Härlinger stockte der Atem. Die schlechte Laune war wie weg-geblasen. „Woher habt Ihr diese Schriften?“

„Aus der Klosterbibliothek.“

„Bruder Karolus! Wenn der Abt dahinterkommt, dass Ihr mir etwas zu lesen gebt, was für immer unter Verschluss bleiben soll, wird er Euch aus dem Kloster jagen. Warum nur habt Ihr das getan?“

Der junge Mönch schluckte. „Ihr seid stets freundlich zu mir und helft mir immer. Es ist ein kleiner Dank für Eure Mühen. Der Abt wird nicht merken, dass ich mir diese Schriftrolle ausgeliehen habe.“

„Johannes!“

„Meister? Gott zum Gruße, Bruder Karolus! Wieder ein Holz-splitter?“

„Johannes“, sagte Härlinger leise. „Nimm dich dieser Auf-zeichnungen an.“

Der Gehilfe griff nach der Pergamentrolle und verschwand in der Studierstube.

Härlinger öffnete die Tür zu seinem Behandlungszimmer. „Dann wollen wir uns den Übeltäter an Eurem Fuß mal ansehen, Bruder Karolus.“

*

„Ja“, rief Cornelia. „Weiter! Du machst das sehr gut!“

Seit Stunden lag das Mädchen in den Wehen, doch das Kind wollte und wollte nicht auf die Welt kommen. Vorsichtig hatte Cornelia im Geburtskanal nach dem kleinen Wesen getastet und entsetzt festgestellt, dass es falsch herum lag. Behutsam packte sie die Füße des Kindes. „Pressen! Gleich hast du es geschafft!“

Erdmuthe stöhnte vor Schmerzen, bäumte sich auf und fiel ermattet zurück auf den Strohsack. Cornelia hielt ein Mädchen in den Händen. Das Neugeborene gab keinen Ton von sich. Seine Haut war blau und kalt. Wie betäubt durchschnitt die Hebamme die Nabelschnur, die sich fest um den Hals der Kleinen gewickelt hatte.

„Simon!“ rief Cornelia. „Simon!“

„Ja?“

„Hol Vater Anselm!“

*

Härlinger zeigte auf den Sessel. „Setzt Euch, Bruder Karolus.“

Der Mönch streifte die Sandale ab. Der Nagel lag tief in einem Wulst entzündeten Fleisches. Die Haut schimmerte gelb.

„Da habt Ihr wahrlich einen ganz bösen Übeltäter“, brummte der Arzt. „Ich werde den Nagel entfernen müssen.“

„Den Nagel entfernen?“ Karolus war blass geworden und schien kurz vor einer Ohnmacht zu stehen. „Muss das wirklich sein?“

Wenn Härlinger eines hasste, dann Patienten, die aus Feigheit sein medizinisches Wissen anzweifelten. „Kann’s auch lassen“, knurrte er. „Vielleicht geschieht ja ein Wunder und Euer Zeh heilt von allein. Oder aber, und das halte ich für viel wahrscheinlicher, wird er sich noch mehr entzünden, Euch Tag für Tag quälen und am Ende abfallen. Ihr entscheidet!“

Der Mönch zog den Kopf ein. „Wird es sehr weh tun?“ fragte er kleinlaut.

„Natürlich wird es weh tun! Das muss es auch, damit Ihr Euch bei der nächsten Verletzung daran erinnert, früher zum Arzt zu gehen.“

Härlinger breitete auf dem Tisch ein Tuch aus und legte seine Instrumente bereit: ein Skalpell, eine Schere, eine Zange.

„Stellt Euren Fuß auf den Hocker.“ Vorsichtig strich der Arzt eine Salbe auf den Zeh. „Bilsenkraut“, erklärte er. „Es wird den Schmerz zwar nicht völlig verhindern können, aber zumindest lindern. Ich werde jetzt Eure Hände festbinden, damit ihr während der Operation keine Dummheiten macht.“ Härlinger schlang breite Lederriemen um die Handgelenke des Mönches und band sie behutsam an den Armlehnen des Sessels fest. Dann steckte er dem Patienten ein Stück blankgescheuertes Holz zwischen die Zähne. „Beißt darauf, so fest Ihr könnt.“

Das Bilsenkraut hatte inzwischen seine Wirkung entfaltet. Mit einem Skalpell ritzte der Arzt die Haut auf. Der Mönch stöhnte. Eine dicke gelbe Flüssigkeit tropfte in eine Schale unter dem Fuß. Immer und immer wieder drückte der Arzt den Zeh zusammen, um auch den letzten Tropfen Eiter aus der Wunde zu entfernen; solange, bis Blut kam. Vor Schmerzen war Karolus in Ohnmacht gefallen.

„Auch gut“, brummte Härlinger. „So kann ich wenigstens in Ruhe operieren.“ Er setzte einen weiteren, tiefen Schnitt. Das Blut floss jetzt hellrot. Mit der Zange holte er den eingewachsenen Nagel aus dem Fleisch und säuberte die Wunde. Allmählich ließ die Blutung nach. Zufrieden mit dem Ergebnis strich Härlinger eine Salbe auf den Zeh und verband ihn mit einem Stück Leinen. Der Mönch erwachte aus der Ohnmacht.

„Bin fertig. Die Wunde wird noch ein paar Stunden schmerzen. Morgen in der Früh nehmt Ihr den Verband ab und tragt Salbe auf. Dann verbindet Ihr den Zeh wieder. Das Ganze macht Ihr solange, bis sich auf der Haut Schorf gebildet hat.“

Die Tür ging auf. „Ah, Johannes“, rief der Arzt. „Es war eine recht erfolgreiche Operation.“

„Das freut mich für Euch, Bruder Karolus. Hier sind Eure Aufzeichnungen zurück.“

„Damit sind wir quitt“, brummte Härlinger.

„Bruder Laurus ist bestimmt wütend, weil ich ihn solange allein gelassen habe.“ Vorsichtig schob Karolus die Schriftrolle unter seine Kutte.

„Bruder Laurus ist immer wütend, wenn etwas nicht nach seinem Kopf geht“, grinste Härlinger. „Fragt ihn doch einfach nach seinem faulen Zahn, dem ich ihm vor ein paar Jahren entfernt habe.“

„Meister Härlinger, ich danke Euch für Eure Hilfe. Gott zum Gruße.“

„Gott zum Gruße, Bruder Karolus.“

Vorsichtig humpelte der Mönch hinüber zu seinem Wagen.

„Ah, der Herr bemüht sich zurück an die Arbeit“, rief Laurus schon von weitem. „Welche Ehre, dass du dich herablässt, mir zu helfen.“

Karolus schwieg. Am liebsten hätte er sich zwischen den Körben verkrochen und versucht, seine innere Ruhe in einem stillen Gebet zu finden. Doch so wie es aussah, hatte Laurus noch nichts verkauft. Der Abt würde sicher toben und auch ihm die Schuld an den fehlenden Einnahmen geben.

„Honig aus dem Kräutergarten Gottes“, rief Karolus. „Feinste Tonwaren und Körbe, gefertigt von geschickten Händen.“ Endlich blieben ein paar Frauen stehen, begutachteten die Waren und begannen um die Preise zu feilschen. Mit gerunzelter Stirn sah Laurus zu, wie ein Stück nach dem anderen den Besitzer wechselte und die Kreuzer in der hölzernen Schatulle mehr und mehr wurden.

„Spar dir dein selbstgefälliges Grinsen. Du verstehst es in der Tat ausgezeichnet, dich bei unserem Abt ins rechte Licht zu setzen.“

„Aber Bruder Laurus! Ich habe nichts anderes getan, als unsere Sachen zu verkaufen. Das hättest du auch tun können, indes ich bei Meister Härlinger war.“

„Hätte! Hätte! Hätte!“ äffte Laurus den anderen nach. „Du weißt genau, dass ich beim Verkaufen nicht so geschickt bin wie du. Aber du, du hast mich im Stich gelassen, weil dir ein Besuch bei diesem Arzt wichtiger war!“

„Ich war nicht bei dem Arzt, weil ich ihm einen Besuch abstatten wollte, sondern, weil er meinen vereiterten Fußnagel entfernt hat. Ohne Härlingers Hilfe hätte ich bald gar nicht mehr laufen können. Sieh her!“ Karolus hob die Kutte ein wenig an und zeigte seinen dick verbundenen Zeh.

„Na und? Das ist die Aufgabe eines Arztes.“ Laurus‘ schlechte Laune steigerte sich mit jedem Wort. „Schließlich wird er ja dafür bezahlt.“

„Meister Härlinger nimmt nicht immer Geld“, rutschte es Karolus heraus.

Laurus horchte auf. „Ach nein? Nichts ist umsonst. Wenn er kein Geld wollte, was kann es dann wohl gewesen hast, was du ihm gegeben hast?“

„Nichts, was dich zu interessieren hätte“, gab Karolus zurück. Er ärgerte sich, dass ihm diese unbedachte Äußerung herausgerutscht war. „Lass uns nach Hause fahren.“

Laurus nahm den Pferden die Hafersäcke ab und warf sie hinten auf den Wagen. Schweigend kletterte er auf den Kutschbock.

„Hüh!“ Die Zügel klatschten auf die Pferdehintern. Der Wagen rumpelte über die Welsterbrücke durch das Stadttor.

Kein Wort sprachen die Mönche während der Fahrt miteinander. Laurus überlegte, welchen Gefallen Karolus dem Arzt getan hatte. Härlinger war als Wissenschaftler bekannt, und Karolus versah in der Bibliothek des Klosters seinen Dienst. Plötzlich fiel es Laurus wie Schuppen von den Augen. Und er war sich sicher, dass der Abt sehr interessiert an dieser Information sein würde.

*

Seit fast zwölf Stunden lag Cornelia auf ihrem Bett und starrte an die Decke. Sie fühlte sich leer und mutlos. Erdmuthe war durch die Anstrengungen der Geburt und den hohen Blutverlust gestorben. Die Heilerin hatte der Frau ihre totgeborene Tochter in den Arm gelegt und alles Weitere Vater Anselm überlassen.

„Mir schien, als sei Cornelia nach Hause gekommen“, sagte Härlinger zu Johannes, der am Schreibpult Federn und Tinte ordnete.

Der nickte. „Auch ich glaubte, Schritte gehört zu haben.“

„Wenn Cornelia sich sofort in ihre Kammer zurückzieht, ist etwas Schlimmes geschehen.“ Härlinger kannte seine Tochter gut. „Ich will nach ihr sehen. Du bleibst hier. Stör uns nur, wenn ein Patient kommt.“

„Natürlich, Meister.“

Die Tür in Cornelias Kammer war angelehnt. Durch einen schmalen Spalt sah Härlinger seine Tochter auf dem Bett. Noch immer trug sie das Kleid, das mit Erdmuthes Blut befleckt war.

„Darf ich eintreten, Cornelia?“

„Ja, Vater.“

Härlinger holte einen Stuhl, der am Fenster stand und setzte sich neben das Bett. Er schwieg. Auch die Heilerin wusste nicht, wie sie anfangen sollte über das zu reden über das, was ihr beinahe das Herz brach.

„Möchtest du mir davon erzählen?“ Die Stimme ihres Vaters war sanft und einfühlsam. Cornelia spürte, wie der Panzer, der sich um ihr Herz gelegt hatte, zu brechen drohte.

„Ich weiß seit heute nicht mehr, ob ich eine gute Hebamme bin. Ich weiß nicht einmal mehr, ob ich mich noch Heilerin nennen darf.“

„In unserem Beruf gibt es immer Höhen und Tiefen“, sagte Härlinger. „Aber es sind die Höhen, die überwiegen. Und doch scheint es uns, dass viel öfter Niederlagen an der Tagesordnung sind.“

„Sie war noch so jung“, sagte sie Heilerin leise. „Sie stand erst am Anfang ihres Lebens und hatte doch schon so viel Schlechtes erlebt. Den Schmerz in ihren Augen werde ich nie vergessen, als sie begriff, dass ihr Kind tot auf die Welt gekommen war.“

Leise berichtete sie von der schweren Geburt und ihrem ver-zweifelten Ringen um das Leben der Mutter, bis diese schließlich in Cornelias Armen gestorben war.

„Warum nur, Vater? Warum nur? Ich habe alles getan, was Ihr und die alte Els mich gelehrt haben.“

„Manchmal hilft unser medizinisches Wissen gar nichts“, sagte Härlinger. Tröstend strich er seiner Tochter über die Wange. „Wenn das Schicksal diesen Weg für die junge Frau und ihr Kind vorbestimmt hat, dann hätte keine Wissenschaft und keine Medizin etwas daran ändern können. Du bist eine gute Heilerin und eine ebenso gute Hebamme, Cornelia. Das weißt du. Die Menschen verehren und brauchen dich. Was heute geschehen ist, ist tragisch, aber nicht zu ändern. Sei für die da, die deiner Hilfe bedürfen! Jetzt zieh dir ein sauberes Kleid an und komm in die Studierstube. Ich muss dir etwas zeigen!“

Johannes warf dem Arzt einen fragenden Blick zu. Der nickte. „Cornelia kommt gleich. Lass mich inzwischen sehen, was du kopiert hast.“ Aufmerksam betrachtete er die Papiere, die sein Gehilfe akkurat beschrieben und mit Zeichnungen versehen hatte. „Sehr gut, Johannes. – Cornelia! Cornelia!“

„Hier bin ich, Vater!“ Noch immer blass, aber mit einem zaghaften Lächeln auf den Lippen, trat die junge Frau ein. Das Kleid hatte sie gegen einen hellgrünen Rock und eine weiße Bluse getauscht.

„Sieh dir das an!“ Härlinger deutete auf eine Zeichnung. Ein großer Kreis wurde von einem kleineren verdeckt. „Das ist eine Sonnenfinsternis vor über vierhundert Jahren.“

„Vater! Woher habt Ihr diese Aufzeichnungen?“

Härlinger gluckste vor Freude. „In der Früh kam ein Mönch vom Kloster der Barmherzigen Brüder, dem ich vor einiger Zeit einen Holzsplitter aus dem Daumen zog und brachte mir aus Dankbarkeit ein paar Schriftrollen. Johannes hat sie kopiert, indes ich dem Bruder heute einen vereiterten Zehennagel entfernte.“

„Die Abschriften sind sehr gut gelungen.“ Aufmerksam betrachtete Cornelia die Zeichnung. „Vater, was dort zu sehen ist… Das bedeutet…“

„Ja. Alles, was wir bisher geglaubt haben, ist damit hinfällig“, sagte Härlinger.

„Werdet Ihr es Seiner Durchlaucht sagen?“

„Ich kann dieses Wissen nicht für mich behalten“, murmelte Härlinger. „Wenn der Fürst durch Zufall erfährt, was ich weiß, so könnte er uns seine Gunst und seine schützende Hand entziehen.“

Ein heftiges Klopfen an der Tür schallte durch das Haus. „Sieh nach, Johannes, wer so dringend Einlass begehrt.“

Der Gehilfe eilte davon, um nur einen Lidschlag später wieder in die Studierstube zu stürzen. „Meister Härlinger! Schnell! Die alte Rosmaria wurde von einem Hund gebissen. Die Wunde blutet sehr stark.“

„Das mag Cornelia übernehmen“, entschied der Arzt. „Ich muss dringend ins Schloss und um eine Audienz bitten. Johannes, leg mir mein bestes Wams bereit und eine saubere Hose.“

„Ja, Meister.“

„Beeil dich“, rief Cornelia ihm nach. „Es kann sein, dass du mir bei dieser Patientin helfen musst. Du weißt doch, dass sie sie ihre Schmerzen vergisst, wenn sie dich nur anschmachten kann.“

Johannes grinste. Erst im letzten Monat war die alte Frau in der Praxis gewesen, weil ein Dorn tief in ihrem Finger steckte. Härlingers Gehilfe hatte den Übeltäter fachmännisch entfernt. Trotzdem war Rosmaria noch eine ganze Woche lang jeden Tag gekommen, hatte allen die Ohren vollgejammert über die an-geblichen Schmerzen und erst Ruhe gegeben, wenn Johannes eine Salbe aufgetragen und ihren verletzten Finger dabei sanft gestreichelt hatte.

„Lass mich deine Wunde sehen, Rosmaria.“ Besorgt betrachtete Cornelia das schmutzige Tuch, das die Frau um ihre rechte Hand geschlungen hatte.

Die Alte schüttelte störrisch den Kopf. „Nicht Euch werde ich meine Hand zeigen. Meister Johannes soll die Wunde betrachten.“

„Wie oft habe ich dir schon gesagt, dass ich nicht der Meister bin?“

„Meister Johannes! Es ist mir eine Freude, Euch zu sehen. Ich weiß, dass Ihr mir helfen könnt.“

 Nur mit Mühe konnte Johannes sein Grinsen verbergen. So ruppig wie Rosmaria eben zu Cornelia gewesen war, so liebenswürdig war sie in Sekundenbruchteilen zu ihm.

„Ihr versteht von der Kunst des Heilens mindestens genauso viel wie Härlinger“, schmeichelte die alte Frau.

„Der Meister ist mir ein sehr guter Lehrer. Doch sei versichert, Rosmaria, bis ich seine Kunst des Heilens erlangt habe, wird noch viel Zeit vergehen.“

Während Johannes mit der Patientin sprach, hatte er das Tuch von ihrer Hand genommen. Auf dem Handrücken klaffte eine tiefe Wunde. „Ich sage Euch, Meister Johannes, so, wie dieser Hund zugebissen hat, kam er direkt aus der Hölle. Ein Höllenhund war es, ein wahrhaftiger Höllenhund!“

„Dann wollen wir das Andenken an dieses Untier schnellstens beseitigen“, sagte Johannes. „Ich muss die Wunde nähen“,

Cornelia nickt zustimmend und holte Nadel und Faden. Während der Heiler die Wunde vorsichtig nähte, verzog Rosmaria weinerlich das Gesicht, gab aber keinen Schmerzenslaut von sich.

Unterdessen hatte Cornelia eine Salbe aus verschiedenen Kräutern angerührt. Johannes strich die Salbe dick auf Rosmarias Hand und verband sie.

„Fertig.“ Die nächsten Tage lässt du den Verband auf der Wunde. Am Sonntag, ehe du zur Kirche gehst, kannst du ihn abnehmen. Danach brauchst du nur noch abends ein wenig Salbe aufzutragen.“ Johannes drückte der Frau einen kleinen Tiegel in die Hand. „Du wirst sehen, in ein paar Tagen hast du den Biss des Höllenhundes vergessen.“

Zufrieden grinste Rosmaria von einem Ohr zum anderen. „Was bin ich Euch schuldig?“

„Bring nächste Woche ein wenig Gemüse für eine Suppe vorbei. Und nun geh und versuche deine Hand zu schonen.“

Sanft, aber bestimmt schob Johannes die Frau zur Tür hinaus und sah ihr nach, bis sie in einer der kleinen Gassen verschwunden war.

*

Der Eingang des Palais im Fürstlichen Park war mit Blumen geschmückt. Fast pausenlos fuhren auf dem breiten Sandweg Kutschen vor und hielten vor dem Sommersitz von Fürst Orlando. Der Abend mit seinem samtschwarzen Himmel und den Sternen war wie geschaffen dafür, eines der prächtigsten und aufwändigsten Feste der letzten Jahre zu umrahmen. Es war der zwanzigste Geburtstag des Regenten. Schon in den frühen Morgenstunden hatten viele Kinder Blumen im Schloss abgegeben und Seiner Durchlaucht alles Gute gewünscht. Die Feier in der neu erbauten Residenz war auch gleichzeitig ein glanzvoller Ball zum Beginn des Sommers.

Der Gartensaal war von tausenden Kerzen taghell erleuchtet. Entlang der Wände zogen sich marmorne Fresken, in die Bildhauer Blumen-bilder von überwältigender Schönheit gemeißelt und mit Blattgold und Edelsteinen verziert hatten. Überlebensgroße Skulpturen von Göttinnen und Göttern standen zwischen den Fenstern und lächelten wohlwollend auf die illustre Gesellschaft herab. Der Saal war erfüllt vom Duft der Blumen, die in riesigen Amphoren überall verteilt waren. Durch die breite Eingangstür blickte man in den Park, in dem Wasserspiele und Fontänen im Licht des Mondes geheimnisvoll glänzten. Eine Hecke aus Hainbuchen, die so hoch war, dass niemand darüber hinwegsehen konnte, umgab das Palais von drei Seiten und war ein beliebter Treffpunkt für Paare, wie zeitweiliges Kichern hinter den Büschen verriet.

Kronenberg war ein Fürst, der mit der Zeit ging und sich für alles interessierte, was in der Welt geschah. Er verfügte über ein weitreichendes Netzwerk von Spionen und Agenten, die ihm regelmäßig berichteten, was sich außerhalb der Grenzen seines Reiches tat. Aus dem schlaksigen Jungen war ein Mann geworden, der sehr begehrt war. Sein ebenmäßiges Gesicht wurde von dunklem Haar umrahmt, das er, entgegen der höfischen Sitte und Mode, kurz und ohne Perücke trug.

Galant zog Kronenberg die Hand seiner Tänzerin an seine Lippen und hauchte einen Kuss darauf. „Komtess Carolina! Ich danke Euch für den Tanz mit einer der bezauberndsten Frauen des Landes.“

Die junge Frau errötete. „Durchlaucht! “

Doch der Fürst war schon weitergegangen. Bestens gelaunt schlenderte er durch die Reihen seiner Gäste, scherzte hier und da mit ihnen – dabei immer verfolgt von den Blicken der reiferen Damen, die auch an diesem Abend der Einladung mit nur einem Ziel gefolgt waren: den Fürsten als Schwiegersohn zu gewinnen.

„Halt!“ Kronenberg stoppte einen Diener, der sich einen Weg zu der langen Festtafel bahnte. Mit spitzen Fingern nahm er ein paar Trauben von dem silbernen Tablett. Genießerisch zerbiss er eine Weinbeere nach der anderen.

„Durchlaucht, ich muss Euch dringend sprechen.“

Vor Kronenberg stand Bischof Nikolaus von Reichenbach, sein geistlicher und leider auch selbst ernannter väterlicher Berater.

„Nicht heute, Bischof! Wollt Ihr mir meinen Geburtstag verderben?“

Nikolaus von Reichenbach legte die fleischige Hand auf seine Brust. Ein Ring mit einem dunkelroten Stein funkelte im Kerzenschein. „Nichts liegt mir ferner, Durchlaucht. Doch ich muss darauf bestehen.“

Der Fürst seufzte. Aus Erfahrung wusste er, dass der Bischof nicht eher Ruhe geben würde, bis er ihn wenigstens angehört hatte. „Kommt mit in die Bibliothek. Dort sind wir ungestört.“

„Durchlaucht, ich weiß es durchaus zu schätzen, dass Ihr mir an einem solchen Abend Gehör schenkt.“

„Ja, ja. Kommt endlich zur Sache, Bischof.“

„Es geht um das Land. Ihr solltet allmählich an einen Thronfolger denken.“

Kronenberg schnaubte. „Dazu muss ich erst einmal heiraten! Ist es das, was Ihr mir wieder einmal zu verstehen geben wollt?“

„Warum sträubt Ihr Euch gegen die Ehe?“ Der Bischof ging gemessenen Schrittes zu einem kleinen Tisch, auf dem eine Karaffe mit Wein stand und goss sich ein Glas voll. „Seht Euch um, Orlando. Heute Abend habt Ihr die Gelegenheit, Eure künftige Gemahlin zu finden.“

„Heute Abend haben die Mütter die Töchter mitgebracht, die bisher keiner haben wollte“, entgegnete der Fürst schärfer als beabsichtigt. „Ich habe nicht vor, eine von ihnen zu meiner Frau zu nehmen. Und schon gar nicht, nur weil Ihr das wünscht.“

„Durchlaucht, ich…“

„Bischof! Ihr mischt Euch permanent in meine Politik ein, was ich bisher immer mehr oder weniger toleriert habe! Aber ich gestatte nicht, dass Ihr mir jetzt auch noch vorschreibt, wie ich mein Leben zu leben habe!“

„Verzeihung.“ Reichenbach legte seine Hände aneinander und hielt sich mit den Fingerspitzen den Mund zu. „Es war in der Tat nicht klug von mir, ausgerechnet heute dieses Thema zur Sprache zu bringen. Wir wollen lieber das Fest genießen.“

Im Ballsaal waren inzwischen die bodentiefen Türen weit geöffnet worden. Ein lauer Sommerwind kühlte die erhitzten Tänzerinnen und Tänzer.

Eine schlanke Frau kam auf den Bischof zu. „Durchlauch, darf ich Euch meine Cousine vorstellen? Gräfin Amalia von Schönfeldt.“

„Durchlaucht.“ Die Gräfin neigte leicht den Kopf. „Ich hoffe, Ihr verzeiht meinem Cousin, dass er mich einfach zu Eurem Ball mitgebracht hat.“

„Aber Frau Gräfin.“ Charmant neigte sich der Fürst über die Hand der Frau. „Die Freunde und Gäste meines Freundes sind in meinem Haus immer willkommen.“

„Ich danke Euch, Fürst Orlando.“ Für einen Augenblick geriet das Gespräch ins Stocken.

„Nun, ich habe meine Cousine gebeten, den Sommer in Gronitz zu verbringen. Morgen reisen wir in meine Residenz.“

„Das ist bedauerlich.“

„Durchlaucht?“

„Eine blühende Rose wie Ihr gehört nicht in eine dunkle und feuchte Wiesenburg, wo sie eingehen würde.“ Der Fürst lächelte der Gräfin zu. „Ihr seid herzlich eingeladen, den Sommer auf Schloss Gronitz zu verbringen, wenn Ihr möchtet.“

„Diese Einladung nehme ich gern an, Durchlaucht. Vorausgesetzt, mein Cousin hat nichts dagegen.“

„Aber liebe Cousine! Wie Ihr wisst, ist Schloss Gronitz für mich ein zweites Zuhause.“

„Dann ist ja alles geklärt. Frau Gräfin! Darf ich um diesen Tanz bitten?“

*

So schnell er konnte, eilte Härlinger den steilen Berg hinauf zum Schloss. Wie ein Fisch auf dem Trockenen schnappte er nach Luft, als er endlich vor dem Tor stand. Um sich selbst zur Ruhe zu zwingen, ordnete er seine Kleidung, rückte den Hut gerade und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Nur ganz langsam fand sein Herz zu seinem normalen Rhythmus zurück. Noch einmal atmete er tief ein und aus. Dann klopfte er mit dem schweren Eisenriegel gegen das Eingangstor. Sofort wurde von innen ein kleines Fenster aufgeschoben.

„Wer seid Ihr und was wollt Ihr?“ fragte der blutjunge Wächter, der erst seit kurzem im Dienst Seiner Durchlaucht stand.

„Passieren lassen!“ Der Befehl kam aus dem Hintergrund. „Das ist Meister Härlinger.“

„Meister Härlinger?“ Der Befehlston des jungen Mannes wich Ehrfurcht. „Bitte verzeiht mir.“ Die schwere Tür schwang auf. „Ich habe schon viel von Euch gehört, aber noch nie hatte ich die Ehre, Euch persönlich zu begegnen.“

„Das haben wir ja nun nachgeholt“, brummte Härlinger. „Ist der Haushofmeister im Schloss?“

Hilflos schielte der Wächter zu seinem Vorgesetzten. Er gehörte zu seinen Aufgaben, als Neuling den Haushofmeister zu suchen. Andererseits war es Vorschrift, einen Besucher nicht allein zu lassen. Der Oberst der Fürstlichen Wache dachte gar nicht daran, seinem Untergebenen zu helfen. Hingebungsvoll reinigte er seine Feuer-waffe.

„Nun geh schon“, sagte Rasmus nach einer gefühlten Ewigkeit. „Meister Härlinger und ich haben ohnehin etwas Vertrauliches zu besprechen.“

Der Arzt wartete, bis die Schritte verhallt waren und holte aus seiner Tasche eine kleine Dose. „Selleriesalz“, erklärte er. „Das wird Eure Manneskraft stärken.“

„Ihr habt doch hoffentlich mit niemandem darüber gesprochen?“ Auf der Stirn des Obersten stand eine Sorgenfalte.

„Nein, mit keinem Menschen. Ihr könnt völlig unbesorgt sein.“

Mit einem Seufzen verschwand die Dose in der Gürteltasche. Gerade rechtzeitig.

„Meister Härlinger“, sagte der Haushofmeister erstaunt. „Was führt Euch her?“

„Ich bitte um eine Audienz bei Seiner Durchlaucht.“

Andreas schüttelte bedauernd den Kopf. „Es tut mir leid, dass Ihr den Weg umsonst gemacht habt“, sagte er. „Seine Durchlaucht sind im Fürstlichen Park und geben im Sommerpalais einen Ball. Kommt morgen in der elften Stunde“, schlug der Haushofmeister vor. „Ich werde Seiner Durchlaucht von der Dringlichkeit Eures Anliegens berichten.“

„Ich danke Euch.“

Das Schloss zu Gronitz war ein alter Bau, der seit mehr als fünfhundert Jahren als Herrschersitz diente. Im Laufe der Jahrhunderte hatte es jeder Regent nach seinen Wünschen und Vorstellungen umgebaut, verändert und der Mode angepasst, so dass jetzt von der ursprünglichen Anlage nicht mehr übrig war als der sechseckige Schlossturm, der mitten auf dem Hof hoch in den Himmel ragte und von fast überall in der Stadt zu sehen war. Unzählige Gänge und Treppen sorgte für Verwirrung. Links in einem Anbau war die Küche, so groß, dass nicht nur die neuesten Kochmaschinen darin Platz fanden, sondern auch ein Spieß, an dem über dem offenen Feuer ein ganzer Ochse gebraten werden konnte. In der Mitte stand ein langer Tisch. Darüber hingen von der Decke herab Töpfe, Pfannen und allerlei Kochwerkzeuge. Als Kind war Orlando gern hier gewesen und hatte mit Hanne gespielt, die nur wenig älter war als er und als Küchenmagd arbeitete. Sein Vater hatte das zwar nicht gern gesehen, aber dem Jungen den Umgang mit dem Personal auch nicht verboten.

Auf der anderen Seite des Hofes befanden sich die Pferdeställe und die Remise für die Kutschen. Der Fürst war ein ausgezeichneter Pferdekenner und hielt nicht nur die prachtvollen spanischen Pferde, sondern züchtete sie auch mit großem Erfolg. Der Fürstliche Stallmeister und die vier Stallburschen wohnten direkt über den Tieren und waren sofort zur Stelle, sobald etwas Ungewöhnliches vorkam. Die beiden Kutschen, eine geschlossene für die kalte Jahreszeit und ein leichter offener Wagen, standen stets auf Hoch-glanz poliert bereit. Doch Kronenberg bevorzugte es, im Sattel unterwegs zu sein.

Gegenüber vom Eingangstor führte eine breite Freitreppe in einem leichten Bogen zu einer mit Schnitzereien und Schmiedearbeiten verzierten Tür. Dahinter befand sich die Eingangshalle, von der Gänge in den Ost und den Westflügel abgingen. Direkt neben der Eingangstür war die Kammer von Andreas, dem Haushofmeister.

Meister Härlinger gehörte zu jenen, für die Fürst Orlando stets Zeit und ein offenes Ohr hatte und bei denen er oft auf die höfische Etikette verzichtete. Trotzdem war der Arzt wie immer nervös, als er am nächsten Vormittag hinter dem Haushofmeister den langen Gang entlangeilte, der zu den Privatgemächern Seiner Durchlaucht führte.

Andreas deutete auf einen samtbezogenen Stuhl, der an der Wand stand. „Setzt Euch, Meister Härlinger.“

Der Haushofmeister verschwand hinter einer raumhohen Tür. Härlinger umklammerte krampfhaft seine Aufzeichnungen und lief wie ein gefangenes Tier hin und her. Zehn Schritte bis zum Fenster. Zehn Schritte bis zur Tür. Zehn Schritte bis zum Fenster.

Endlich ging die Tür auf. „Seine Durchlaucht lassen bitten.“

Noch nervöser betrat der Arzt den Gelben Salon, blieb an der Tür stehen und verbeugte sich tief, so wie es die Etikette verlangte.

„Meister! Erhebt Euch! Wir sind unter uns.“ Der junge Fürst kam mit ausgebreiteten Armen auf den Arzt zu. „Es ist schön, Euch zu sehen. Andreas sagte mir, dass Ihr mich sprechen wollt wegen dem da?“ Ungeniert zeigte Kronenberg auf die Schriftrollen.

„Ja, Durchlaucht. Ich habe neue Erkenntnisse über die bevorstehende Sonnenfinsternis.“

„Zeigt her!“

Härlinger breitete die Schriftrollen auf dem Tisch aus. Der Fürst holte aus einer silberbeschlagenen Schatulle ein Vergrößerungsglas. Millimeter für Millimeter prüfte er die Zeichnungen und las die dazugehörigen Texte. „Das wird Bischof Nikolaus aber gar nicht ge-fallen.“

„Durchlaucht, diese Erkenntnisse sind nicht die meinigen, sondern die von Gelehrten von vor vielen Jahrhunderten.“

„Woher habt Ihr die Aufzeichnungen?“

Der Arzt gestattete sich ein Lächeln. „Jemand, der meinte, mir einen Gefallen zu schulden, gab mir die Originale zum Lesen.“

„Weiß Eure Tochter davon?“

„Ja. Cornelia ist mit den Abschriften vertraut.“

„Die natürlich wieder Euer Gehilfe angefertigt hat.“ Plötzlich hatte die Stimme des Fürsten etwas Lauerndes.

„Johannes ist einer der besten Kopisten, die ich kenne, Durchlaucht.“

„Aber könnt Ihr ihm auch vertrauen?“

„Ja, Durchlaucht. Ich vertraue Johannes ebenso wie meiner Tochter.“

„Nun, so nehmt meinen Dank.“ Der Fürst reichte Härlinger einen kleinen Lederbeutel. „Richtet Eurer Tochter meinen Gruß aus.“

„Durchlaucht, es war mir eine große Ehre, Euch zu Diensten zu sein.“

Der Fürst hatte sich schon wieder über die Schriften gebeugt und alles um sich herum vergessen. Härlinger verbeugte sich tief und lief rückwärts zur Tür.

Erleichtert eilte er hinunter in die Stadt.

*

Vorsichtig wickelte Karolus den Verband von seinem Fuß. Die Schwellung war deutlich zurückgegangen. Rund um die Wunde hatte sich Schorf gebildet. Mit der Fingerspitze tupfte der Mönch Salbe auf den Zeh. Ein leises Schlurfen vor seiner Zellentür ließ ihn auf-horchen. Gleich darauf klopfte es zaghaft.

„Bruder Karolus?“ Die Stimme war sehr jung, fast noch die eines Kindes. Das konnte nur Elmar sein, der neu im Kloster war und vor allem und jedem eine Riesenangst hatte.

„Was willst du?“

„Verzeihung, Bruder Karolus, aber der Ehrwürdige Abt wünscht dich sofort zu sprechen.“

„Ich komme.“ Der Mönch zog seine Sandale an und strich die Kutte glatt.

Auf Zehenspitzen betrat Karolus die karg eingerichtete Stube und blieb abwartend an der Tür stehen. Der Abt schrieb etwas. Die Gänsefeder kratzte auf dem Papier. Durch das winzige Fenster fiel kein Sonnenstrahl. Alsenberg hielt den Blick gesenkt. Als er neu im Orden war, hatte er den Fehler begangen, das Wort ohne Erlaubnis an den Abt zu richten. Prompt hatte er den Jähzorn und die harte Hand von Bernwart von Kalckstein zu spüren bekommen.

Jetzt registrierte der Mönch, dass das Kratzen der Schreibfeder aufgehört hatte.

„Tritt näher!“ befahl der Abt. „Du weißt, warum ich dich habe rufen lassen?“

„Nein, Ehrwürdiger Abt.“

„Du weißt nicht, warum ich dich habe rufen lassen?“ Die Stimme war scharf wie ein Rasiermesser. „Oder willst du es nicht wissen? Nun, so werde ich deinem Gedächtnis ein wenig auf die Sprünge helfen! Du warst vor Tagen mit Bruder Laurus auf dem Markt in Gronitz.“

„Das ist richtig, Ehrwürdiger Abt. Wir haben Honig, Tonwaren und Körbe verkauft, wie Ihr es angeordnet hattet.“

„Warst du die ganze Zeit über mit Bruder Laurus zusammen?“

„Nein“, sagte Karolus. „Ich suchte den Arzt von Gronitz auf, um meinen vereiterten Zeh behandeln zu lassen.“

„Mit dem Arzt von Gronitz meist du sicher Härlinger, diesen Scharlatan?“

„Verzeiht, wenn ich Euch widerspreche, Ehrwürdiger Abt. Meister Härlinger ist ein ausgezeichneter Arzt und hat meine Beschwerden gelindert.“

„Das freut mich für dich“, sagte der Abt höhnisch. „Aber wie dir sicherlich bekannt ist, praktiziert Härlinger auf eine Art und Weise, die nicht mit Gottes Wille vereinbar ist.“

„Kann es denn Gottes Wille sein, Menschen leiden zu lassen, wenn es die Möglichkeit einer Linderung oder gar Heilung gibt?“ In Karolus wuchs mit jedem Wort der Widerstand. „Meister Härlinger ist ein Arzt, der sich mit modernen Wissenschaften befasst, dass stimmt“, sagte er trotzig. „Aber er ist auch ein gottesfürchtiger Mann.“

„Wie kann ein Mann, der sich mit den Irrlehren der Wissenschaft befasst, gottesfürchtig sein? Wo genau warst du in seinem Haus?“

„In der Behandlungsstube.“

„In der Behandlungsstube?“ wiederholte der Abt. „Ist dir dort etwas Ungewöhnliches aufgefallen?“

„Ich weiß nicht, was Ihr meint, Ehrwürdiger Abt. In den Regalen stehen Tiegel und Töpfe mit Salben und Pasten, die der Arzt für seine Patienten braucht. Auf dem Schreibpult lag ein aufgeschlagenes Buch.“

„Hast du erkennen können, um was es sich bei diesem Buch handelte?“

Der Mönch versuchte, sich an Einzelheiten zu erinnern. „Es waren Zeichnungen der Sonne und des Mondes abgebildet“, sagte er. „Den Text konnte ich nicht lesen.“

„Sonne und Mond. So beschäftigt sich dieser gotteslästerliche Arzt mit der bevorstehenden Sonnenfinsternis. Sprachst du mit Meister Härlinger über diesen Wink Gottes?“

„Ja, Ehrwürdiger Abt. Meister Härlinger erklärte mir, dass der Mond sich vor die Sonne schiebt und sie dadurch dunkel wird. Wandert der Mond weiter, wird auch die Sonne wieder hell und strahlend. So eine Sonnenfinsternis tritt alle paar Jahrzehnte auf und ist ein Naturereignis.“

„Es gibt keine Naturereignisse! Alles, was geschieht, geschieht nach dem Willen Gottes! Hast du Meister Härlinger für seine medizinische Hilfe entlohnt?“

„Der Meister wollte kein Geld von mir annehmen.“

„Aber du wolltest dich sicher auf eine andere Art und Weise erkenntlich zeigen?“ Der Abt stand auf und lief langsam zum Fenster und starrte in den Klostergarten. „Ich war gestern in der Bibliothek und wollte etwas nachschlagen“, sagte er, ohne sich umzudrehen. „Dabei fiel mir auf, dass in dem Regal mit den verbotenen Schriften eine Pergamentrolle an einem anderen Platz lag als sonst. Hast du eine Erklärung dafür?“

Karolus wusste, dass es keinen Zweck hatte, etwas leugnen zu wollen. „Ich wollte ganz gewiss nicht dem Kloster oder der Kirche schaden“, stammelte er. „Ich wollte lediglich Meister Härlinger auf diese Weise meinen Dank zeigen.“

„Du hast das schlimmste Verbrechen begangen, das es jemals in diesen Mauern gab. Du hast eines jener Geheimnisse verraten, die den Menschen verborgen bleiben sollten. Dir ist klar, dass ich ein solches Verhalten nicht dulde?“

„Ja, ehrwürdiger Abt.“ Der junge Mönch schluckte. „Ich hole meine Sachen.“

„Warum willst du deine Sachen holen? Glaubst du wirklich, ich werde dich des Klosters verweisen, damit du draußen in der Welt weiter dein Unwesen treiben kannst?“ brüllte der Abt so laut, dass es im Refektorium zu hören war. „Du bleibst in unserem Orden. Doch du wirst viel Zeit haben, über deinen Fehler nachzudenken. Ich schicke dich auf den Hainberg.“

Karolus wurde kreidebleich. „Auf den Hainberg?“ wiederholte er tonlos.

„Ja. Du wirst ab sofort die Leprakranken versorgen. Geh!“

Stumm nickte der junge Mönch. Mit schlurfenden Schritten ging er in seine winzige Zelle und holte die wenigen persönlichen Dinge, die ihm nach dem Eintritt ins Kloster geblieben waren.

Laurus lachte gehässig, als Karolus seinen Weg antrat, der ihn zum schlimmsten Ort des kleinen Landes führte.

*

Cornelia streckte sich und blinzelte in die Sonne. Auf dem Fluss tanzten Lichtpunkte und funkelten wie Gold. Die Welster floss an dieser Stelle durch ein breites Becken, in dem die Frauen von Gronitz ihre Wäsche wuschen. Die große Wiese am Flussufer war wie ge-schaffen dafür, die Sachen zu trocknen. Mit aller Kraft zog Cornelia die schweren Leintücher von den Betten durch das Wasser, bearbeitete sie mit der Bürste und schwenkte sie hin und her, um auch den letzten Schmutzrest auszuspülen.

Hinter den Bäumen, die die Wiese umstanden, wurden Stimmen laut. Es waren Selma und Theodora, die Mägde des Schankwirts Heckel, der den Gasthof „Zum Goldenen Ochsen“ betrieb.

„Guten Morgen!“ rief die blondgelockte Theodora schon von wei-tem. Die Frau war in Cornelias Alter und bekannt dafür, dass sie es mit der Treue nicht allzu ernst nahm. Gefiel ihr ein Bursche, so scheute sie sich nicht davor, ihn mit den Waffen einer Frau in ihre Schlafkammer zu locken. Meist war das aber gar nicht nötig, denn es gab in Gronitz nur wenige unverheiratete junge Männer, die der temperamentvollen Magd widerstehen konnten. Auch Verheiratete und sogar einige Ratsherren gehörten zu ihren häufigen Besuchern. Heimlich aber sehnte sich Theodora nach einem Mann, mit dem sie ihr Leben teilen und dem sie für immer treu sein würde. Niemand ahnte etwas von ihrer inneren Einsamkeit und der verzweifelten Suche nach Glück, und noch weniger ahnte jemand, dass sich die Magd vor einer Weile tatsächlich verliebt hatte.

Das ganze Gegenteil von Theodora war Selma, die nur drei Jahre älter war und doch schon so viel Leid und Elend hatte erleben müssen. Im letzten Krieg hatte sie innerhalb eines Monats ihren Mann und die beiden Söhne verloren. Verzweifelt hatte sie stundenlang am Ufer der Welster gestanden und daran gedacht, ihrem Leben ein Ende zu setzen. Zufällig war Heckel vorbeigekommen. Er hatte sie davor bewahrt, in den Fluss zu springen, bei sich aufgenommen und beutete sie seither aus. Selma ertrug alles ohne Klagen. Es schien, als sei mit ihrer Familie auch ihre Seele gestorben.

„Theodora, hilfst du mir, die Tücher zum Trocknen auszubreiten?“ bat Cornelia.

„Hast du schon die Neuigkeiten gehört?“ fragte die Magd. Ohne eine Antwort abzuwarten, sprach sie weiter, während sie die Ecken der Tücher mit Steinen beschwerte. „Bischof Nikolaus von Reichenbach ist wieder da. Fürst Orlando will ihm zu Ehren einen Ball geben, um den Bischof aufzuheitern.“

„Warum braucht ein Mensch Aufheiterung, wenn er in Italien war? Cornelia seufzte sehnsüchtig. „Einmal die Kunstwerke Michel-angelos sehen. Oder Berninis. Was gäbe ich nicht alles dafür!“

„Vielleicht würdest du in Italien den Mann fürs Leben finden“, meinte Selma. „Von unseren Burschen scheint dir ja keiner gut genug zu sein.“

„Wer sagt denn, dass nicht schon längst ein Mann den Weg in mein Herz gefunden hat?“ Cornelia legte den letzten Stein auf die Wäsche. „Fertig.“

„Du bist auch verliebt?“ sprudelte Theodora hervor. „Wer ist es? Erzähl!“

„Theodora!“ rief Selma, „hör auf zu schwatzen und mach die endlich an die Arbeit. Die Wäsche wird nicht von allein sauber.“

Rasch drücke Theodora Cornelias Hand. „Du musst mir unbedingt alles erzählen“, wisperte sie. „Dann erzähle ich dir von dem Mann, dem mein Herz gehört.“ Leichtfüßig rannte sie zu Selma.

Cornelia nahm ihren Korb und machte sie auf den Heimweg. Die Wäsche würde sie am Abend holen, wenn Sonne und Wind ihre Arbeit getan hatten.

Im Haus war es still. Auf dem Tisch in der Küche lagen Kräuter. Cornelia band sie zu Bündeln zusammen und stieg hinauf auf den Dachboden. Ein warmer Wind strich durch das Gebälk. Dicht an dicht hingen die verschiedenen Pflanzen an den Dachsparren und verbreiteten einen aromatischen Duft. Kamille mischte sich mit dem frischscharfen Aroma der Minze. Darüber schwebte der süße Geruch von wilden Rosen.

Im Hausflur waren Schritte zu hören. „Cornelia?“

„Hier oben.“

Auf der Stiege tauchte Johannes auf. Sein Gesicht war rot, die Haare standen verschwitzt nach allen Seiten ab.

„Wie siehst du denn aus? War dein letzter Krankenbesuch so anstrengend?“

„Ja. Es war eine schwere Geburt.“

Erschrocken schlug sich Cornelia die Hand vor den Mund. „Wenn er Bischof erfährt, dass du einer Frau geholfen hast, ihr Kind auf die Welt zu bringen, wird er dich in den Kerker sperren lassen.“

„Keine Angst. Der Bischof kann mir gar nichts anhaben. Ich war bei Bauer Schmitz. Seine Bertha hat ein gesundes Kalb geworfen.“

Die Heilerin war sichtlich erleichtert. „Du Hammel!“ rief sie. „Wie kannst du mir nur solch einen Schrecken einjagen?“ Sie griff nach einem Tuch, das auf dem Tisch lag und schlug damit scherzhaft nach Johannes. Lachend hielt der Mann das Tuch fest und zog Cornelia damit zu sich heran.

„Lass das“, wehrte die sich halbherzig. „Was soll Vater denken, wenn er plötzlich nach Hause kommt? Außerdem stinkst du nach Stall.“

Johannes ließ Cornelia los und verbeugte sich spöttisch. „Ich folge Eurem unausgesprochenen Befehl, Meisterin, und nehme ein Bad.“ Rasch drückte er Cornelia einen Kuss auf die Wange. „Übrigens“, flüsterte er ihr ins Ohr. „Das Kalb heißt Cornelia.“

Lachend rannte er die Stiege hinunter. Hinter ihm klatschte das Tuch auf den Boden.

*

Franz rückte die Stühle zurecht und schickte einen letzten prüfenden Blick durch die Bibliothek. Zufrieden nickte er. Alles lag oder stand an seinem Platz. Auf dem Flur waren Schritte zu hören. Gleich darauf wurde die Tür geöffnet.

„Guten Morgen, Durchlaucht.“

„Guten Morgen, Franz.“ Der Fürst lief ans Fenster. „Ist das nicht ein herrlicher Sonnenaufgang?“

„Gewiss, Durchlaucht, gewiss!“

Gronitz und das Tal der Welster waren in einen rotgoldenen Schimmer getaucht. Über dem Flussbett schwebten letzte weiße Nebelschwaden.

Franz hatte die Depeschen und Nachrichten, die bereits zu dieser frühen Stunde eingetroffen waren, auf dem Schreibtisch auf einem silbernen Tablett bereitgelegt.

 „Wünschen Durchlaucht zu frühstücken?“

„Nein.“ Der Fürst ging zum Schreibtisch. „Vorerst genügt mir eine Tasse Kaffee. Aber im Anschluss an die Unterredung mit meinen Beratern möchte ich mit Seiner Exzellenz frühstücken.“

„Sehr wohl, Durchlaucht. Ich werde im Gelben Salon servieren lassen.“

„Gut.“

Kronenberg griff nach der ersten Nachricht und begann zu lesen. Unwillig runzelte er die Stirn, als es kurz klopfte. Gleich darauf traten Braunitz und Lünell ein.

„Guten Morgen, Durchlaucht.“

„Meine Herren!“ Fürst Orlando deutete auf den kleinen Tisch, der am Fenster stand. „Nehmt Platz. Kaffee?“

Die beiden alten Männer nickten synchron. Orlando griff nach dem Klingelzug.

„Durchlaucht wünschen?“

„Bring auch Kaffee für die Herren Berater und Seine Exzellenz.“

„Sehr wohl, Durchlaucht.“

Die beiden Grafen rückten umständlich ihre Stühle zurecht. Jeder war darauf bedacht, den gleichen Abstand zum Fürsten zu wahren und gegenüber dem anderen keinen Millimeter zu kurz zu kommen.

Fast zeitgleich betraten der Bischof und Franz die Bibliothek.

„Hatten Durchlaucht eine angenehme Nacht?“ erkundigte sich Reichenbach.

„Danke, Exzellenz. Ich hoffe, auch Ihr habt wohl geruht?“ gab der Fürst zurück.

„Sehr wohl, Durchlaucht. Übrigens, Franz hat mir Eure Einladung zum Frühstück übermittelt“, sagte der Bischof. „Ich nehme natürlich sehr gern an.“

„Eine Einladung zum Frühstück?“ platzte Lünell heraus.

„Ja.“ Das Lächeln des Bischofs wurde noch breiter. „Seine Durch-laucht und ich haben etwas Vertrauliches zu besprechen.“

Lünells Mundwinkel rutschten nach unten.

„Ich habe Seine Exzellenz um diese Unterredung gebeten.“ Kronenberg erstickte den sich anbahnenden Streit um seine Gunst im Keim. „Wollen wir jetzt über die Angelegenheiten sprechen, die Gronitz betreffen?“ Als Frage formuliert, als Befehl ausgesprochen. Gehorsam nickten die Berater. Der Fürst legte eine Depesche auf den Tisch. „Von meiner Cousine Margot. Wie sie mir berichtet, wurden die Unruhen in Frankreich, die unter einigen Bergarbeitern aus-gebrochen waren, niedergeschlagen.“

„Frankreich ist weit weg“, murmelte Braunitz. „Auch gibt es in unserem Land keine Bergarbeiter.“

„In Gronitz nicht, darin stimme ich Euch zu“, sagte der Fürst. „Was aber, wenn die Bergleute im Mansfelder Land sich wieder gegen die Obrigkeit erheben, so wie schon einmal geschehen?“

Reichenbach nickte zustimmend. „Was, wenn eine Rebellion der Bergleute auf die Bauern und am Ende auf die Weber und Färber übergreift?“

„Ich werde unverzüglich an meine Cousine schreiben und Einzel-heiten über die Niederschlagung des Aufstandes erbitten.“

„Eine sehr gute Idee, Durchlaucht“, versicherten die Berater einstimmig.

„Nun, dann wäre diese Angelegenheit ja zur Zufriedenheit aller geklärt.“ Der Fürst trank einen Schluck Kaffee, ehe er weitersprach. „Meine Herren, ich beabsichtige, einen zweiten Parkgärtner einzu-stellen“, erklärte er.

„Einen Parkgärtner? Durchlaucht, wenn ich mir die Bemerkung erlauben darf – der alte Immanuel erledigt seine Arbeit sehr zuverlässig.“

„Zweifelsohne tut er das, mein lieber Lünell. Und seine Gehilfen sind ebenfalls sehr tüchtig, wie mir immer wieder berichtet wird. Diese Gehilfen sind es, die die Anleitung eines jüngeren, modernen Gärtnermeisters brauchen. Ihr müsst zugeben, dass Immanuel zwar sehr erfahren, aber bei der Durchsetzung seiner Ansichten manchmal auch sehr starrsinnig ist.“ 

„Nun, wenn Durchlaucht beabsichtigen, einen jungen Gärtner ein-zustellen, so ist der alte Immanuel überflüssig.“

„Da muss ich Euch widersprechen, Graf. Auch wenn Immanuel nicht mehr alle Arbeiten verrichten kann, so ist er doch keineswegs überflüssig. Wenn es seine Kraft erlaubt, kann er noch immer bei leichten Arbeiten helfen oder die Wege harken. Ansonsten mag er in der kleinen Hütte im Park wohnen bleiben und sich an dem erfreuen, was er in den letzten Jahren gehegt, gepflegt und auch geschaffen hat.“

„Durchlaucht sind zu gütig. Nicht jeder Regent hat ein solch gutes Herz wie Ihr für seine Untertanen.“ Reichenbach lächelte wohl-wollend.

„Einen Punkt möchte ich noch mit Euch besprechen“, sagte der Fürst, ohne auf Reichenbachs Bemerkung einzugehen. „Im Herbst wird eine große Jagd stattfinden. Deshalb erwarte ich in den nächsten Tagen eine Liste der Gäste, die wir aus politischen und wirtschaftlichen Interessen unbedingt einladen müssen.“

Damit war die morgendliche Besprechung beendet. Braunitz und Lünell nickten dem Bischof knapp zu und verbeugten sich vor dem Fürsten.

„Exzellenz, ich danke Euch, dass Ihr meine Einladung zum Frühstück angenommen habt“, sagte Kronenberg. „Es gibt in der Tat etwas sehr Persönliches, für das ich Euren Rat nicht nur als geistlicher Berater, sondern vor allem als väterlicher Freund brauche.“

Im Gelben Salon hatten die Mägde ein reichhaltiges Essen auf-getischt. Reichenbach ließ sich kalten Braten auflegen, dazu eine fette Sauce. Ungeduldig wartete er, bis der Fürst sich für ein paar Erdbeeren entschieden hatte.

„Lasst uns allein“, wies Kronenberg die beiden Mägde an.

„Wie kann ich Durchlaucht helfen?“

„Wie ich bereits sagte, erbitte ich Euren Rat als geistlicher Beistand und väterlicher Freund.“

Reichenbach holte tief Luft. „Ich kann gar nicht sagen, wie stolz und glücklich mich Eure Worte machen. Wobei darf ich Euch raten?“

„Wie Ihr wisst, bin ich ein Mann, der sehr an moderner Wissenschaft interessiert ist.“

Scherzhaft drohte der Bischof mit dem Finger. „Und wie Ihr wisst, mein lieber Fürst, bin ich ein Mann, der für diese Leidenschaft kein Verständnis aufbringt, widerspricht doch die Wissenschaft den Lehren Gottes.“

„Das eine muss das andere nicht ausschließen“, sagte Kronenberg. „Wenn man sich für die Entstehung verschiedener Begebenheiten interessiert und versucht, die Gründe und Hintergründe zu ergrün-den, dann ist es immer klug, sich andere Meinungen dazu anzuhören.“

Gespannt wartete der Bischof darauf, dass der Fürst weitersprach. Sogar sein Frühstück schien er vergessen zu haben.

„Ich beabsichtige, Cornelia, des Meister Härlingers Tochter, an meinen Hof zu holen.“ Endlich war es heraus.

„Des Meister Härlinger Tochter? Die Heilerin von Gronitz?“ Empört schüttelte der Bischof den Kopf. „Durchlaucht, könnt Ihr Euch den Skandal vorstellen? Fürst von Kronenberg geht eine Verbindung mit einer Bürgerlichen ein!“

„Ihr habt da etwas missverstanden, Bischof. Ich beabsichtige nicht, die Frau Cornelia an den Hof zu holen, sondern die Wissen-schaftlerin. Cornelia und ich haben in vielerlei Dingen die gleichen Ansichten und könnten unsere Erfahrungen austauschen. Wie Ihr wisst, sind auch Seine Majestät den modernen Lehren gegenüber sehr aufgeschlossen. Es würde Gronitz nicht schaden, in diesen Dingen Ansehen am Königshof zu erlangen.“

„Darin mögt Ihr Recht haben, Durchlaucht. Doch als geistlicher Berater muss ich dringend vor einer Liaison, mag sie auch nur auf rein wissenschaftlichen Interessen beruhen, warnen. Holt Ihr Cornelia an den Hof, so schadet Ihr dem Ruf des Hauses Kronenberg mehr, als dass Ihr ihm nützt. Cornelia ist zweifellos eine ausge-zeichnete Heilerin und Hebamme für Eure Untertanen. Doch für ein Leben am Hofe halte ich sie für absolut ungeeignet.“

„Die Worte eines gottesfürchtigen und gottergebenen Mannes“, sagte Kronenberg leise. „Doch was würde mein väterlicher Freund mir raten?“

„Das Gleiche wie Euer geistlicher Berater, wenngleich Euer väterlicher Freund direktere Worte wählt.“ Reichenbach schob seinen Teller von sich. Ihm war der Appetit vergangen. „Schlagt Euch Euren Plan aus dem Kopf, Orlando. Ihr seid ein Mann von hohem Rang und Cornelia ist eine einfache Frau aus dem Volk – Wissenschaft hin oder her. Holt Ihr sie an den Hof, so macht Ihr Euch zum Gespött – weit über die Grenzen von Gronitz hinaus.“

„Ich danke Euch für diese ehrlichen Worte. Seid versichert, dass ich alles noch einmal genau überdenken werde.“

„Tut das, Durchlaucht. Doch eines solltet Ihr ebenfalls bedenken: Es ist Eure Entscheidung, für die auch Ihr allein die Verantwortung tragt.“

„Das hört sich so an, als wolltet Ihr mir drohen, Bischof.“ Mit unbewegter Miene betrachtete Kronenberg sein Gegenüber.

„Keineswegs, Durchlaucht, keineswegs. Ihr wolltet von mir eine Antwort auf eine Frage, und ich bedaure, wenn Euch diese Antwort nicht behagt.“

Beide Männer schwiegen.

Kronenberg ergriff als Erster wieder das Wort. „Entschuldigt mich. Auf mich warten dringende Geschäfte. Genießt Euer Frühstück.“

Lange, nachdem Kronenberg gegangen war, saß Reichenbach noch immer am Tisch und dachte nach.  Ich muss handeln, bevor mir Kronenberg entgleitet, dachte der Bischof. Ich muss handeln, bevor Cornelia noch mehr Einfluss auf ihn gewinnt. In der Fensterscheibe sah er sein Spiegelbild einen dicken, alten Mann mit einer Zornesader auf der Stirn. Die Glocken der Marienkirche begannen zu läuten. Der Bischof lauschte dem Klang. Und plötzlich wusste er, was er tun müsste, um den Fürsten nach wie vor seine Spielfigur sein zu lassen.

Ein paar Tage später ritt Fürst Orlando hinunter nach Gronitz. Vor dem Haus auf dem Marktplatz sprang er dem Sattel. „Wartet hier!“ befahl er seinen beiden Begleitern.

Im Haus des Arztes war es kühl und dämmerig. „Meister Härlinger?“ rief Kronenberg, „Meister Härlinger? Seid Ihr zugegen?“

Der Arzt legte die Schreibfeder aus der Hand. „Das ist der Fürst“, sagte er erstaunt zu Cornelia. So schnell ihn seine Beine trugen, eilte er seinem Gast entgegen. „Durchlaucht! Bitte verzeiht, dass ich Euch warten ließ, aber ich war so in meine Aufzeichnungen vertieft, dass ich Euer Kommen nicht gleich bemerkt habe.“

„Nun, wenn Eure Schriften die Sonnenfinsternis betreffen, so sei Euch verziehen“, lächelte der Fürst.

„Darf ich Durchlaucht in meine Studierstube bitten?“ Mit einer einladenden Geste gab Härlinger die Tür frei.

„Ah, Meisterin Cornelia! Wie schön, auch Euch anzutreffen!“

„Durchlaucht!“ Cornelia sank in die Knie und neigte den Kopf.

„Lasst diese Förmlichkeiten“, sagte Kronenberg. „Ich bin nicht als Regent zu Eurem Vater und Euch gekommen, sondern als Freund der Wissenschaften. Gewiss seht Ihr der Sonnenfinsternis ebenso erwartungsvoll entgegen wie ich?“

„Meine Tochter hat bereits umfangreiche Niederschriften verfasst“, antwortete Härlinger.

„Die ich sehr gern sehen möchte. Würdet Ihr sie mir zeigen, Meisterin Cornelia?“

Aus dem Schrank holte die junge Frau einen ledernen Umschlag. Vorsichtig entnahm sie die eng beschriebenen Papiere und breitete sie auf dem Tisch aus. Kronenberg beugte sich vor, um nichts zu übersehen.

„Schön, sehr schön“, murmelte er. Cornelia wurde die Nähe des Mannes zunehmend unbehaglich. Mit einer wie zufällig aussehenden Drehung wandte sie sich ab.

„Verzeiht, Durchlaucht, aber auf mich wartet eine Patientin. Ihr gestattet, dass ich mich entferne?“

Unwillig sah Fürst Orlando von den Schriften auf. „Meister Härlinger! Könnt nicht Ihr dieser kranken Frau helfen? Ich habe zu diesen Aufzeichnungen einige Fragen an Eure Tochter.“

Cornelia warf ihrem Vater einen hilfesuchenden Blick zu. Der verstand. „Die Frau ist keineswegs krank, Durchlaucht“, sagte er. „Barbara hat gestern Abend einem gesunden Mädchen das Leben geschenkt.“

„Ah, ich verstehe“, sagte der Fürst. „In diesem Falle ist es wohl tatsächlich unerlässlich, dass Eure Tochter die Wöchnerin besucht.“ Wohlwollend tätschelte er Cornelia die Wange. „Richtet der Mutter meine Glückwünsche aus.“

„Sehr wohl, Durchlaucht.“

Vor der Tür atmete die junge Frau tief durch und seufzte erleichtert. Dann rief sie leise nach dem Gehilfen. „Johannes?“

„Ich bin hier, Cornelia“, klang es aus dem Hof. Die Frau nahm ihre Tasche und hastete hinaus.

„Was wollte der Fürst?“ fragte Johannes.

„Das erzähle ich dir unterwegs. Jetzt komm, der Weg nach Gut Rosenthal ist lang. Ich möchte vor Einbruch der Dunkelheit zurück sein.“

Johannes nickte. Seite an Seite machten er und die Heilerin sich auf den Weg, um dem jüngsten Mitglied der Familie Reichert einen Besuch abzustatten.

In der Studierstube starrte Kronenberg auf die Aufzeichnungen, ohne etwas zu lesen. Seit ein paar Minuten hatte er kein Wort mehr gesprochen.

„Durchlaucht?“ fragte Härlinger leise. „Durchlaucht?“

Der Fürst zuckte zusammen. „Meister, ich will ganz offen mit Euch reden. Es geht um Eure Tochter.“

„Um Cornelia?“

Kronenberg holte tief Luft. „Ich wüsste die Wissenschaftlerin Cornelia gern an meinem Hof“, sagte er geradeheraus.

Härlinger fühlte, wie ihm alle Farbe aus dem Gesicht wich. Er wollte etwas sagen, aber der Fürst kam ihm zuvor. „Natürlich gestattet es mir mein Stand nicht, Cornelia zu ehelichen. Aber ich kann ihr ein sehr angenehmes Leben bieten.“

„Ihr wollt meine Tochter als Eure Mätresse“, stellte Härlinger richtig.

„Nein“, antwortete Kronenberg. „Ich würde nichts tun, was nicht auch Eure Tochter will.“

„Ich fürchte, ich muss Euer sehr großzügiges Angebot ablehnen, Durchlaucht. Ich brauche Cornelia in der Praxis.“

„Meister Härlinger! Verzeiht mir meine Offenheit, aber Ihr seid nicht mehr der Jüngste. Über kurz oder lang wird Euch die Praxis sicher-lich zu anstrengend werden. Warum übergebt Ihr nicht alles an Euren Gehilfen? Dieser Johannes soll in seinem Wissen Euch schon fast ebenbürtig sein, wie mir berichtet wurde. Ihr könntet Euch von der Behandlung der Patienten zurückziehen und ausschließlich Euren Forschungen widmen. Die ich natürlich in jeder Form unterstützen würde“, fügte der Fürst eher beiläufig hinzu. „In jeder Form!“

Härlinger schluckte schwer. Die Forderung, seine Tochter an den Fürstenhof zu verkaufen, war ungeheuerlich. Andererseits bot ihm Kronenberg damit die einmalige Chance, ihn vor möglichen Verfolgungen durch die Kirche zu schützen. Denn so oft Bischof Nikolaus von Reichenbach auch seine Hilfe oder die Cornelias in Anspruch nahm, so oft ließ er auch versteckte Drohungen durchklingen, dass er die modernen Ansichten von Vater und Tochter in keiner Weise tolerierte. Jetzt hieß es, diplomatisch vorzugehen, um den Fürsten nicht noch mehr zu verärgern.

„Durchlaucht, es ist eine große Ehre, dass Ihr meiner Tochter die Chance bietet, an Eurem Hof zu leben. Doch bitte verzeiht Ihrem Vater, dass er nicht sofort antworten kann.“ Härlinger machte eine kurze Pause und neigte den Kopf. „Ich möchte mit Cornelia darüber sprechen, Durchlaucht.“

„Natürlich, Meister Härlinger.“ Kronenberg ging zur Tür. „Ich werde Euch nicht drängen. Aber ich werde auch nicht ewig auf eine Antwort warten. Denkt daran: Allein in Eurer Hand liegt Euer Schicksal und das Eurer Tochter.“

Härlinger sank auf einen Schemel in der Studierstube. Durch das geöffnete Fenster hörte er, wie die die Hufe von drei Pferden über das Kopfsteinpflaster des Marktplatzes klapperten und leiser wurde. Seufzend stand er auf und ging zu seinem Schreibpult. Die Notizen verschwammen vor seinen Augen. Ganz gleich, wie meine Tochter sich entscheidetin diesem Spiel wird sie die Verliererin sein.

*

Die Sonne stieg langsam über den Dächern von Rom empor und tauchte die Ewige Stadt in goldenes Licht. Die Luft war angenehm frisch, doch das würde sich rasch ändern. Die gewaltigen Marmor-säulen Berninis, die den Petersplatz umstanden, schimmerten im Morgenlicht. In der Stille des jungen Tages klang das Rollen einer Kutsche auf dem Pflaster unnatürlich laut. Der Wagen hielt vor der Treppe, die hinauf in den Apostolischen Palast führte. Noch ehe der Kutscher die Tür öffnen konnte, war schon ein Schweizergardist zur Stelle. Der hochgewachsene junge Mann nickte dem Ankommenden zu und gab ihm zu verstehen, er möge ihm folgen. Bischof Nikolaus von Reichenbach raffte sein Gewand und beeilte sich, mit dem Gardisten Schritt zu halten. Er war nicht zum ersten Mal in Rom, und jedes Mal empörte ihn die verschwenderische Ausstattung der Räume aufs Neue. Dagegen nahm sich die Stadtkirche von Gronitz ja wie eine Bauernhütte aus!

„Seine Eminenz lassen bitten.“ Zwei andere Wachen stießen die fast deckenhohe Flügeltür auf. Mit einem plötzlichen Gefühl der Beklemmung betrat der Bischof den Saal.

Kardinal Ferrotti erhob sich von seinem Stuhl und kam langsam um den Tisch herum. Er war schlank und muskulös. Ohne das purpurfarbene Gewand hätte in ihm niemand einen Mann Gottes gesehen, sondern eher einen Söldner, was er im gewissen Sinne auch war. Der Kardinal war nicht nur die rechte Hand des Papstes. Im Vatikan und in der gesamten kirchlichen und politischen Welt war es ein offenes Geheimnis, das er allein bestimmte, was geschah.

Mit gerunzelter Stirn sah er dem Besucher entgegen. „Bischof Nikolaus von Reichenbach! Was führt Euch her?“ Der Unmut in seiner Stimme war nicht zu überhören.

„Eminenz, ich danke Euch, dass Ihr mich zu dieser frühen Stunde empfangt.“

Der Kardinal musterte Reichenbach verächtlich. „Wenn Ihr diese Stunde als früh empfindet, so frage ich mich, wann Ihr Euren Tag beginnt. Hier in Rom läuten die Glocken in der vierten Morgenstunde zum ersten Gebet.“

„Gewisse Eminenz, gewiss“, beeilte sich Reichenbach zu versichern. „Bei uns in Gronitz ist das nicht anders.“

Ferrotti mochte den Bischof nicht und ließ ihn spüren. Es fiel ihm sichtlich schwer, die Etikette zu wahren. „Hattet Ihr eine angenehme Reise?“

„Ja, Eminenz.“

„Nun, so werdet Ihr jetzt sicherlich hungrig sein. Frühstückt mit mir. Bei dieser Gelegenheit könnt Ihr mir den Grund für Euren Besuch nennen.“

„Eminenz, ich dachte, dass Seine Heiligkeit…“

„Seine Heiligkeit hat nicht die Zeit, sich um Kleinkram zu kümmern“, unterbrach der Kardinal Reichenbachs Gestammel. „Glaubt ihr wirklich, er kann sich mit jedem Problem seiner Provinzbischöfe beschäftigen?“

Provinzbischof! Reichenbach fühlte, wie der Ärger in ihm hochstieg. Der Kardinal nahm seinen Platz an der Stirnseite der langen Tafel wieder ein. Genervt wedelte er die silbernen Platten beiseite, ließ sich ein paar Weintrauben vorlegen und wartete ungeduldig, bis die Novizen den Teller des Bischofs mit allem vollgeladen hatten, was auf dem Tisch stand. „Sprecht endlich! Warum habt Ihr den langen Weg nach Rom auf Euch genommen?“

Reichenbach ließ die Hand mit dem Stück Weißbrot, das er sich eben in den Mund schieben wollte, sinken. „Nun, Eminenz, ich mache mir Sorgen um Gronitz. Fürst von Kronenberg verbringt sehr viel Zeit mit den modernen Wissenschaften.“

„Das ist Sache Seiner Durchlaucht, nicht der Heiligen Mutter Kirche, solange er seine Verpflichtungen ihr gegenüber nicht vergisst.“

„Das ist ja das Problem.“

 „Drückt Euch klarer aus!“ Endlich zeigte Ferrotti Interesse.

„Wenn der Fürst zu Gott betet, so habe ich zunehmend den Eindruck, dass er nicht mehr mit dem Herzen dabei ist.“

„Wollt Ihr sagen, er wendet sich innerlich von Gott ab?“

Hastig schluckte Reichenbach ein Stück Fleisch hinunter. „Das wage ich nicht zu beurteilen, Eminenz. Allerdings glaube ich, dass Seine Durchlaucht sich nicht nur von den modernen Wissenschaften und zum Teil auch von den Lehren dieses Ketzers Luther beeinflussen lässt, sondern auch, dass ein Weib eine gewisse Macht auf ihn ausübt.“

„Weiter!“ In Ferrottis Gesicht war keinerlei Regung zu erkennen.

„In Gronitz gibt es eine junge Frau, die als Heilerin bekannt ist. Jene Cornelia beschäftigt sich ebenfalls mit Dingen, die sie nicht mit Gottes Wille erklären will.“

Reichenbach zuckte zusammen. Der Kardinal hatte sein Messer auf den Teller geworfen. „Nun, da Ihr dieses Thema selbst ansprecht, Bischof, so will ich offen zu Euch sein“, sagte er. „Uns ist bekannt, dass Gronitz eines der wenigen Länder ist, in denen noch nie eine Frau oder auch ein Mann aufgefallen ist in Verbindung mit dem Bösen.“

„Gronitz ist ein sehr kleines Land, Eminenz. Jeder kennt jeden. Würde etwas nicht mit rechten Dingen zugehen, so ließe sich das nicht lange verbergen.“

„Die Heilige Mutter Kirche ist anderer Meinung. Überall gibt es Diener des Teufels. Wenn jemand behauptet, in seinem Land sei das nicht der Fall, so muss davon ausgegangen werden, dass dort ein solches Bündnis geduldet wird.“

Reichenbach schnappte nach Luft. Was bildete sich dieser arrogante Kardinal eigentlich ein, ihn wie einen dummen Jungen abzukanzeln?

Ferrotti ignorierte die Zornesfalte auf Reichenbachs Stirn. „Möchte Gronitz wirklich eines dieser verunreinigten Länder sein?“

„Der Fürst glaubt nicht an Hexerei, Eminenz.“

„Bischof, wie Ihr wisst, ist Hexenverfolgung eine weltliche Angelegenheit, die damit auch einem weltlichen Gericht unterliegt. Was genau wollt Ihr von mir?“

„Deshalb bin ich gekommen. Ich erbitte einen Rat von Euch, wie ich für Ordnung sorgen kann.“ Nervös zerkrümelte Reichenbach ein Stück Brot zwischen den Fingern.

„Tut, was Ihr für richtig haltet. Rom unterstützt Euch gern, aber Rom möchte nicht mit dieser Angelegenheit in Verbindung gebracht werden. Habe ich mich unmissverständlich ausgedrückt, Bischof?“

„Gewiss, Eminenz, gewiss. Es ist nur so, dass Seine Durchlaucht…“

„Seine Durchlaucht!“ fiel Ferrotti dem anderen ins Wort. „Nikolaus von Reichenbach! Fürst Orlando ist fast noch ein Kind. Wollt Ihr etwa sagen, dass Ihr Angst vor ihm habt?“

„Nun, Angst würde ich es nicht nennen.“ Allmählich gewann Nikolaus von Reichenbach seine Selbstsicherheit zurück. „Aber Kronenberg ist nicht zu unterschätzen. Immerhin genießt er trotz seiner Jugend einen ausgezeichneten Ruf am Hofe des Königs.“

Der Kardinal stand auf. Das war das unmissverständliche Zeichen dafür, dass das Gespräch beendet war. „Bischof Nikolaus, es liegt allein an Euch, Eure Schäfchen wieder auf den rechten Weg zu führen. Beobachtet diese Frau und entfernt sie aus der Herde der Gläubigen, wenn Ihr den Zeitpunkt für gekommen haltet.  Ich wün-sche Euch eine gute Heimreise, Bischof!“

„Ich danke Euch, Eminenz!“ Nikolaus von Reichenbach sank in die Knie und hauchte einen Kuss auf den Ring des Kardinals.

Ferrotti drehte sich um und eilte mit langen Schritten zur Tür. Wütend raffte der Bischof seine Robe zusammen.

An der Treppe standen Schweizergardisten. „Eure Kutsche wartete bereits“, sagte der Hauptmann.

Reichenbach presste die Lippen zusammen und stieg ein. Die Kutsche rollte über den Petersplatz in Richtung Norden.

*

In einer Gasse, die zum Marktplatz führte, stand das kleine, fast unscheinbare Haus des Apothekers. Edmund Lorenz hatte es von seinen Eltern geerbt und führte die Apotheke, die sein Vater gegründet hatte, weiter. Lorenz war ein schlanker, großer Mann und trotzdem keiner, nach dem sich die Frauen ein zweites Mal umdrehten.  Alle, die nicht seinem oder einem studierten Berufsstand angehörten, behandelte er als Menschen niederer Klasse und zeigte ihnen das deutlich. Weber oder Handwerker wurden von ihm nicht bedient, was wiederum dazu führte, dass der Großteil der Gronitzer zu Härlinger und Cornelia lief.

Allmählich ging das kleine Vermögen, das ihm seine Eltern hinterlassen hatten, zur Neige. Doch der Apotheker dachte gar nicht daran, sich einzuschränken, sondern gab weiterhin das Geld mit vollen Händen aus. Er leistete sich Pferde und eine Kutsche, war regelmäßig im „Ratskeller“, wo er nur den teuersten Wein trank und kleidete sich stets nach der neuesten Mode.

Sein Gehilfe Wolfhart hatte die desaströse finanzielle Situation längst erkannt. Der junge Mann war gleichzeitig auch Lorenz‘ Bediensteter und stand dem zwanzig Jahre älteren Mann rund um die Uhr für alle Belange zur Verfügung. Er besaß die Frechheit, für besondere Dienste viel Geld zu verlangen und drohte Lorenz regelmäßig, er würde die Neigung seines Meisters in der Stadt bekannt machen. Der Apotheker wusste, dass das keine leere Drohung war und zahlte. Nach vielen schlaflosen Nächten hatte er beschlossen, seinem Schicksal ein wenig auf die Sprünge zu helfen und sich zumindest vor Gott und dem Gesetz mit einer angesehenen Gronitzerin zu verheiraten, auf dass es finanziell bald wieder bergauf gehen möge.

Selma legte ein Stück Speck in ihren Korb und stieß Theodora an. Eben ging der Apotheker über den Platz. Er war noch eleganter als sonst gekleidet. Zwei Gassenjungen machten sich einen Spaß daraus, hinter dem Rücken des Mannes seinen gestelzten Gang nachzuäffen. Lorenz bemerkte nichts. Ohne sich umzusehen oder einen Gruß zu erwidern, marschierte er zu Härlingers Haus. Vor der Tür blieb er stehen, zog sein Wams gerade und wischte ein unsichtbares Staubkorn von seiner Hose.

Cornelia zuckte zusammen, als der eiserne Riegel gegen die Tür geschlagen wurde. Sie legte die Schreibfeder aus der Hand und lief durch den kühlen Hausflur, um zu öffnen.

„Meister Lorenz?“

„Ich wünsche Euren Vater zu sprechen, Jungfer Cornelia. Ist er zugegen?“

„Nein. Vater ist bei einem Patienten. Aber wenn Ihr warten möchtet, so kann ich Euch einen Stuhl und einen kühlen Trunk anbieten.“ Neugierig sah sich Lorenz um. Alles war blitzsauber.

„Ihr seid eine sehr gute Hausfrau, Jungfer Cornelia“, lobte der Apotheker. „Wer Euch zum Weibe nimmt, kann sich glücklich schätzen.“

Verlegen wandte sich Cornelia ab. „Mein Vater kommt“, sagte sie erleichtert, als sie Härlingers Schritte hörte.

„Lorenz! Was kann ich für Euch tun?“

„Ich muss mit Euch reden, Meister Härlinger. Allein!“

„Ich habe keine Geheimnisse vor meiner Tochter“, sagte der Arzt.

„Nun, wie Ihr wollt. Meister Härlinger, ich bitte Euch um die Hand Eurer Tochter.“

„Nein!“ entfuhr es Cornelia. Erschrocken schlug sie sich die Hand auf den Mund.

„Ich habe nicht Euch gefragt, sondern Euren Vater“, wies Lorenz die Frau scharf zurecht.

„Liebt Ihr meine Tochter?“

„Nun, ich schätze und achte Eure Tochter sehr. Ich denke, das sollte für eine Ehe genügen. Was erhält Cornelia als Mitgift?“ Lorenz‘ Blick war lauernd. „Die Praxis?“

„Meister Lorenz! Ich möchte keine Entscheidung über meine Tochter treffen. Das kann und soll ganz allein sie selbst tun. Cornelia, möchtest du etwas dazu sagen?“

„Ja, Vater.“ Die junge Frau ging langsam auf den Apotheker zu. Verächtlich sah sie ihn an. „Meister Lorenz, ich danke Euch für Eure Worte.“ Geschmeichelt lächelte der Mann. „Allerdings haben sie mir deutlich gemacht, dass ich nur Mittel zum Zweck wäre, um Eure Habgier zu befriedigen. Ihr wollt nicht mich, Ihr wollt die Praxis. Nein, ich werde Euch nicht heiraten!“

„Meister Härlinger! Ich verlange, dass Ihr Eurer Tochter unbedingten Gehorsam beibringt!“

„Wollt Ihr mich lehren, wie ich mein Kind zu erziehen habe? Cornelia ist eine selbständige junge Frau, die ihre Entscheidung getroffen hat.“

„So ist dies Euer letztes Wort?“

„Ja. Mein letztes Wort. Lebt wohl, Lorenz!“

„Das wird Euch noch leidtun, Härlinger“, zischte der Apotheker voller Hass. „Euch und Eurer überheblichen Brut. Ihr werdet Eure Entscheidung bitter bereuen!“ Die Tür fiel hinter ihm zu.

„Ich danke Euch, Vater, dass Ihr mich nicht zu dieser Ehe gezwungen habt“, sagte Cornelia leise.

„Wie könnte ich mein Kind zu einem Unglück zwingen?“ Härlinger trat an das Fenster und sah hinunter auf den Marktplatz. „Lorenz ist ein raffgieriger Tyrann. Er wird nichts unversucht lassen, um uns zu schaden. Wir werden von jetzt an vor ihm auf der Hut sein müssen.“ Ein Lächeln flog über Härlingers Gesicht. „Doch jetzt zeige mir deine Aufzeichnungen über die Heilkraft der Kamille. Ich bin schon sehr gespannt darauf.“

*

Nikolaus von Reichenbach stöhnte. Obwohl es Hochsommer war, brannte im Kamin in seinem Schlafgemach ein Feuer. Es war unerträglich heiß. Der Bischof lag, in dicke Decken gewickelt, in seinem Bett und wurde abwechselnd von Fieberschüben und Schüttelfrost geplagt. Seit fast einer Stunde untersuchte Doktor Thomas von Anguria den Kranken, aber bisher schien er nichts gefunden zu haben. Joseph stand in der Ecke. Er konnte den Arzt nicht ausstehen. Argwöhnisch beobachtete er jeden Handgriff des Mannes, der als Leibarzt bei Fürst und Bischof gleichermaßen in Diensten stand. Der Gelehrte hatte schon Orlandos Vater behandelt und war nach dessen Tod am Hofe geblieben. Doktor von Angurias bevorzugte Behandlungsmethode war „Essen und Trinken hält Leib und Seele zusammen“. Damit hatte er immer Erfolg gehabt. Allerdings gab es bisher weder bei Fürst Orlando noch bei Bischof Nikolaus ernsthafte Krankheiten zu behandeln. Für mehr als einen Schnupfen oder leichte Verletzungen war er nicht gebraucht worden.

„Bring für Seine Exzellenz Wein und eine Gänsekeule“, herrschte Anguria den Diener an. „Verlange von den Mägden in der Küche das fetteste Stück Fleisch.“

Joseph nickte. Langsam trottete er hinaus. Vor der Tür stieß er beinahe mit Fürst Orlando zusammen.

„Wie geht es Bischof Nikolaus?“

„Doktor von Anguria schickt nach Wein und einer Gänsekeule“, murmelte der Diener.

„Ich habe dich nicht gefragt, was der Doktor verlangt hat, sondern wie es Seiner Exzellenz geht.“

Joseph fasst sich ein Herz. „Gestatten Durchlaucht, dass ich offen spreche?“

„Sprich!“

„Der Zustand Seiner Exzellenz hat sich keineswegs gebessert. Ich verstehe zwar nichts von Medizin, doch habe ich den Eindruck, das Fieber sei gestiegen. Auch reden Exzellenz zeitweise wirr.“

„Joseph, hast du gesehen, welche Behandlung der Doktor angewendet hat?“

„Nein, Durchlaucht. Bitte verzeiht meine Ehrlichkeit, aber ich habe bisher noch keine richtige Behandlung gesehen.“

„Du bist immer bei den Untersuchungen zugegen?“

„Ja, Durchlaucht. Doktor von Anguria kommt, sieht nach Seiner Exzellenz und ordnet an, dass er weiter warmgehalten wird, um den Schüttelfrost zu unterdrücken.“

„Joseph, mir scheint, wir müssen dem Doktor ein wenig helfen. Lauf hinunter in die Stadt und hole Meister Härlinger.“

Der Diener atmete auf. Schon mehrmals hatte er selbst daran gedacht, den Arzt der einfachen Menschen zu Rate zu ziehen, doch er hatte sich nicht getraut, das vorzuschlagen. „Meister Härlinger ist bereits im Schloss, Durchlaucht. Er hat der alten Brunhilde einen neuen Verband angelegt.“

„Der Tritt von meinem Pferd, ich erinnere mich. Meister Härlinger soll sofort in die Privatgemächer Seiner Exzellenz kommen, wenn er mit Brunhilde fertig ist.“

„Sehr wohl, Durchlaucht!“ Der Diener lief die Treppe hinunter, rannte über den Hof und verschwand in der Gesindestube.

*

Cornelia schloss die Haustür hinter Rosmaria und lächelte. Die Wunde war gut verheilt. Erstaunlicherweise hatte sich die Alte von der jungen Heilerin behandeln lassen, ohne auch nur einmal nach Johannes zu fragen.

Auf dem Markt wurden Stimmen laut. Von allen Seiten schienen sie zu kommen und sich in der Mitte des Platzes zu sammeln. Auf dem steinernen Rand des Brunnens stand ein Mönch. Seine Haare und sein Bart waren struppig, der Saum der Kutte schmutzbedeckt. Das Klappern der Webstühle, das sonst über die Stadtmauer hinaus schallte, war verstummt. Bauern, Leinweber, Handwerker hatten sich mit den Männern der Stadtwache und Bürgersleuten auf dem Platz versammelt. Sogar Doktor Brinkhaus, der Bürgermeister, hatte seine Amtsstube im Rathaus verlassen.

Der Mönch hob die Hand. Aus den Gesprächen wurde ein aufgeregtes Murmeln, dann ein Raunen. Schließlich war es so still, dass man eine Nadel hätte fallen hören können.

„Das Ende ist nah!“ rief der Mönch mit schriller Stimme. „Wenn die Sonne vom Himmel verschwunden ist, wird auch unsere Welt verschwunden sein. Seid mutig und geht vorher den Weg ins Paradies.“

Unterdrücktes Gelächter der jüngeren Zuhörer war die Antwort.

„Lacht nur, ihr Ungläubigen, lacht nur. Aber wenn der Tag gekommen ist, werdet ihr die ersten sein, die jammern und klagen.“

„In welcher Zeit lebst du, Bruder?“ rief Wolfhart von hinten aus der Menge. „Ablasspredigten und Ablassbriefe sind schon seit Hun-derten von Jahren verboten.“

„Habe ich etwas von Ablassbriefen gesagt?“ geiferte der Mönch. „Ich biete euch die einmalige Möglichkeit zum Eintritt ins Paradies.“

„Wie soll das gehen?“ fragte ein alter Mann. „Wie soll unsereins Zutritt ins Paradies erlangen?“

„Deshalb, ihr lieben Leute, bin ich heute zu euch gekommen“. Aus der tiefen Tasche seiner Kutte holte der Mönch ein Bündel Papier. „Für nur einen Taler erhaltet ihr die genaue Wegbeschreibung ins Himmelreich. Folgt diesen Anweisungen, und ihr werdet euch schon bald in absoluter Glückseligkeit wiederfinden.“

„So einen Blödsinn habe ich ja noch nie gehört“, brummte der dicke Hannes, der eine Leinweberei am linken Ufer der Welster betrieb. Auch Doktor Brinkhaus schüttelte den Kopf. „Ich stimme Euch zu, Meister Hannes“, sagte er. „Am liebsten würde ich diesen Prediger aus der Stadt jagen. Aber wir haben nun einmal das Gesetz, dass jeder Mann frei seine Meinung sagen darf. Deshalb sollten wir ihn zumindest vorerst nicht unterbrechen.“

„Ich glaube nicht, dass die Gronitzer so dumm sind und auf diesen Schwindel hereinfallen.“ Hannes genoss es offensichtlich, dass der Bürgermeister ihn in ein Gespräch verwickelt hatte. Vielleicht war die Gelegenheit jetzt günstig, das Stadtoberhaupt unter vier Augen nach dem Wiesengrundstück neben dem Friedhof zu fragen, auf das der Weber schon lange ein Auge geworfen hatte und das sich im Eigentum der Stadt befand.

„Aber wenn es wirklich so ist, dass der Mond die Sonne ver-schluckt?“ fragte der alte Mann nachdenklich. „Dann wird es nie wieder hell und warm.“

„Berthold, du brauchst dir keine Sorgen zu machen“, spottete ein Färber. „Man erzählt sich, dass deine dreißig Jahre jüngere Frau dir ganz schön einheizt.“

„Halt dein loses Maul“, rief Berthold aufgebracht. „Was meine Frau mit mir macht oder nicht, geht dich überhaupt nichts an.“ Mit zittriger Hand holte er ein Geldstück aus seiner Tasche. „Ich jedenfalls werde mein Schicksal selbst bestimmen.“

Cornelia hatte genug gesehen und gehört. „Lasst mich durch“, rief sie und schob sich durch die Menge. Bereitwillig machten ihr die Gronitzer Platz. Der Mönch sah auf die junge Frau. In seinen Augen war plötzlich eine andere Art von Gier zu erkennen.

„Wer bist du, dass du es wagst, diese braven und anständigen Leute zu verhöhnen?“ Cornelia raffte ihren Rock, kletterte auf den Brun-nenrand und stellte sich neben den Prediger. „Leute von Gronitz!“ rief sie. „Ihr alle kennt mich. Deshalb bitte ich euch, mir zuzuhören.“

„Mach’s kurz, Cornelia!“ brummte der Hauptmann der Stadtwache. „Ich habe Hunger.“

„Du kommst schon noch rechtzeitig an deinen Suppentopf“, gab Cornelia zurück. „Der Turmwächter hat noch nicht einmal die Mittagsstunde geschlagen. Leute von Gronitz! Das, was euch dieser Mann erzählt hat, stimmt und stimmt nicht.“

„Wie meinst du das?“ fragte Hannes. „Entweder etwas stimmt oder es stimmt nicht!“

„Ich will es dir erklären, Hannes. Und euch anderen auch!“ Cornelia zeigte auf den strahlend blauen Himmel. „Wenn ihr nach oben schaut, was seht ihr?“

„Nichts. Da kriege ich mein Heu trocken in die Scheune“, rief Matthes. Er war mit seiner Familie in die Stadt gekommen, um den Wanderprediger zu hören.

„Ja, das stimmt, Matthes. Du kriegst dein Heu trocken in die Scheune, weil keine Wolken da sind, aus denen es regnen könnte.“

„Ob es regnet oder nicht, ist allein der Wille unseres Herren“, giftete der Mönch.

Cornelia warf ihm einen wütenden Blick zu. „Lass mich gefälligst ausreden! Heute sind keine Wolken am Himmel, doch schon morgen kann alles grau sein. Die Sonne versinkt abends hinter den Bergen, aber am nächsten Tag strahlt sie wieder hell. Auch der Mond steigt jeden Abend empor, ehe er der Sonne am Morgen Platz macht. Das alles nennt man den Kreislauf der Natur.“

„Der Mönch hat gesagt, dass die Sonne vom Mond aufgefressen wird“, rief eine junge Frau.

„Jawohl! Genauso wird es passieren. Hört nicht auf dieses Weib! Nur der Herr allein bestimmt alle Geschicke der Welt!“

„Die Geschicke? Vielleicht. Ganz sicher aber nicht manches Missgeschick.“ Blitzschnell versetzte Cornelia dem Mönch einen Stoß. Der Mann ruderte hilflos mit den Armen in der Luft. Immer wilder und wilder wurden seine Bewegungen. Schließlich konnte er sich nicht mehr halten und fiel rückwärts in das Wasserbecken. Hochrot tauchte er auf, dabei nicht nur Wasser, sondern auch Gift und Galle spuckend. „Du bist eine Dienerin des Teufels“, brüllte er. „Du Hexe gehörst ins Verlies!“

Gelassen trat Hauptmann Ansgar neben den Brunnen. „Wie hast du eine Bürgerin unserer Stadt genannt?“ fragte er.

„Ich wiederhole es gern noch einmal“, rief der Mönch. Mit einiger Mühe kletterte er zurück auf den Brunnenrand. „Das ist eine Hure des Teufels! Verhaftet die Hexe! Dieses Weib hat einen Mann Gottes angegriffen!“

„Nicht einen Mann Gottes, sondern einen Scharlatan“, sagte Cornelia mit fester Stimme. Verächtlich sah sie den Wanderprediger an. „Du redest den Leuten Angst ein vor etwas, das es seit Men-schengedenken gibt und immer geben wird. Schon früher verschwand die Sonne am hellen Tag hinter dem Mond, um kurze Zeit später wieder strahlend zu scheinen.“

„Die Hexe lügt! Die Hexe lügt!“ Der Mönch war völlig außer sich und tobte. Schaum stand ihm vor dem Mund. „Wenn so eine Sonnenfinsternis angeblich harmlos ist, wie erklärst du dann die Unglücksfälle, die damit einher gehen?“

Der Apotheker nickte zustimmend. „Die letzte Sonnenfinsternis brachte dem Land einen Krieg über viele Jahre und die Pest“, sagte er.

„Die Sonnenfinsternis trat auf, als der Krieg schon im achten Jahr tobte“, widersprach Cornelia. „Und dass die Pest eine Folge des Krieges mit seinen schlechten Lebensbedingungen ist, sollte ein gebildeter Mann wie Ihr eigentlich wissen.“

„Muss ich mir von einer wie Euch sagen lassen, was ich weiß oder nicht?“

„Ich wollte Euch nicht zu nahetreten“, sagte Cornelia gelassen. „Jedem in Gronitz ist bekannt, dass Euer scharfer Verstand und wacher Geist Eurer Meinung nach unübertroffen sind. Deshalb lag es mir fern, Euch belehren zu wollen.“

„Spart Euch Eure falschen Worte“, zischte Lorenz. Er warf Cornelia einen hasserfüllten Blick zu und verschwand in der Menge.

„Ich sage, das Ende ist nah!“ kreischte der Wanderprediger. Triefend nass stand er auf dem Brunnenrand und versuchte, sich erneut die Aufmerksamkeit der Gronitzer zu verschaffen.

„Ich denke, Ihr hattet Gelegenheit, Euer Anliegen vorzutragen“, sagte der Bürgermeister. „Doch jetzt ist es an der Zeit, dass Ihr wei-terzieht.“

„Ihr verweist mich der Stadt?“

„Ja. Ich biete Euch sogar noch Geleitschutz. Hauptmann Ansgar!“

„Herr Bürgermeister?“

„Geleitet unseren Gast vor das Tor und achtet darauf, dass er nicht zurückkommt.“

„Zu Befehl, Herr Bürgermeister!“

Cornelia sprang vom Brunnenrand. Spöttisch lächelnd sah sie zu, wie Ansgars Leute den Prediger unsanft herunterzogen.

„Das wird Euch noch leidtun“, tobte der Mönch. „Ihr werdet sehen, dass Eure Stadt von einem Unglück heimgesucht wird, von dem sie sich nur schwer erholt. Lasst mich endlich los!“ Letzteres galt den beiden Soldaten der Stadtwache, die den Mann noch immer an den Armen festhielten.

„Das werden wir“, gab Ansgar zurück. „Sobald wir vor dem Stadttor sind.“

Langsam setzte sich die Eskorte in Bewegung. Direkt vor Cornelia blieb der Prediger stehen. Völlig unerwartet spuckte er der Frau ins Gesicht. „Du Hexe! Du Ausgeburt der Hölle!“

Die Menge wurde unruhig. Cornelia sah im Augenwinkel Johannes, der sich einen Weg durch die Menschen bahnte. „Meisterin!“ rief er schon von weitem. „Euer Vater schickt mich. Er benötigt dringend Eure Hilfe!“ Johannes reichte der Frau seine Hand bahnte sich mit ihr einen Weg durch die Menschen zurück zum Haus.

„Was ist passiert?“ Cornelia keuchte hinter dem Gehilfen her und versuchte, mit ihm Schritt zu halten. Johannes öffnete die Haustür einen schmalen Spalt und schob die Heilerin hindurch.

„Johannes! Was ist los? Wo ist mein Vater?“

„Es war nicht der Meister, der mich schickte. Beinahe hättest du dich um Kopf und Kragen geredet. Wenn der Bischof erfährt, dass du eine Einnahmequelle der Kirche sabotierst, wird er dich verhaften lassen.“

„Aber dieser Wanderprediger schürt die Angst der armen Leute“, rief Cornelia aufgebracht. „Sollen denn die Menschen wirklich auf diesen Schwindel hereinfallen?“

„Solange die, die nicht lesen und schreiben können, sich in ihrem Glauben glücklich fühlen, wird sie niemand von dieser Art Schwindel fernhalten können. Aber wenn du im Verlies landest, dann haben sie nicht nur ihre Heilerin und Hebamme verloren, sondern auch eine Frau, die ihnen immer wieder hilft, die neue Zeit zu verstehen.“

„Du hast recht“, gab Cornelia leise zu. „Die Menschen brauchen mich hier. Nicht im Kerker. Ich danke dir, dass du mich vor einer großen Dummheit bewahrt hast.“ Sie umarmte Johannes und schmiegte sich leicht an ihn. Der Mann spürte plötzlich ein Ziehen in der Herzgegend. Auch Cornelia fühlte etwas, das sie bis zu diesem Augenblick noch nicht gekannt hatte.

„Cornelia, ich…“

„Johannes, ich…“

Der besondere Augenblick war vorüber. Cornelia trat einen Schritt zurück und brach in schallendes Gelächter aus. „Wenigstens kann der Mönch in der nächsten Zeit keine Wegbeschreibungen ins Paradies verkaufen“, gluckste sie. „Die sind nämlich mit ihm ins Wasser gefallen.“

„Ist der Mönch wirklich ins Wasser gefallen? Oder hat da vielleicht jemand ein wenig nachgeholfen?“

„Ich muss gehen“, sagte Cornelia leise. Sie nahm den Wäschekorb, der an der Wand lehnte und machte sich auf den Weg zu den Bleichwiesen vor der Stadt.

Johannes ging in die Studierstube, um die unterbrochenen Arbeiten fortzusetzen.

*

Unruhig lief der Fürst hin und her. Endlich! Auf der Treppe am Ende des Ganges waren Schritte zu hören.

„Meister Härlinger!“

„Durchlaucht! Welch eine Ehre, Euch erneut zu Diensten zu sein.“

„Nicht mir, Meister Härlinger, nicht mir. Bischof Nikolaus liegt im Fieber und wird gleichzeitig von Schüttelfrost geplagt“, erklärte der Fürst.

„Der Leibarzt ist noch bei Seiner Exzellenz?“ Härlinger hatte keine Lust, seinem arroganten Kollegen zu begegnen. Der hatte ihn schon einmal in aller Öffentlichkeit als Pfuscher bezeichnet und so beinahe Härlingers Existenz zerstört, weil ihm die Patienten wegliefen.

„Ja“, nickte Joseph und öffnete die Tür.

Erschrocken sprang Anguria aus einem Sessel auf. „Durchlaucht!“

„Berichtet, wie es Seiner Exzellenz geht“, sagte der Fürst.

„Sehr wohl!“ Erst jetzt bemerkte Anguria seinen Kollegen, der wartend an der Tür stehen geblieben war. „Was will der denn hier?“

„Ich habe Meister Härlinger gebeten, ebenfalls das Befinden Seiner Exzellenz zu diagnostizieren.“

„Nun, wenn Durchlaucht die Entscheidung getroffen haben, Seine Exzellenz von einem Arme-Leute-Arzt untersuchen zu lassen, so ist meine Anwesenheit hier wohl nicht länger vonnöten.“ Anguria sah Härlinger an. In seinen Augen stand der blanke Hass.

„Es ist keineswegs meine Absicht, Euch Eure Position hier am Hofe streitig zu machen“, sagte Härlinger gelassen. „Ich folge lediglich der Bitte Seiner Durchlaucht. Und was Eure Ansicht über arme und reiche Patienten angeht, so muss ich Euch sagen, dass ich es mit der Lehre von Martin Luther halte.“

„Natürlich! Ich hätte mir denken können, dass einer wie Ihr diesen ketzerischen Ansichten folgt“, zischte Anguria. „Wie könnt Ihr es wagen, mit solch einer Einstellung einen Vertreter der Mutter Kirchen auch nur ansehen zu wollen?“

„Luther hat einmal gesagt, dass alle Menschen für Gott gleich sind. Was ist daran ketzerisch? Sagt Ihr es mir, Anguria!“

Darauf wusste der Leibarzt nichts zu erwidern. Ohne ein weiteres Wort neigte er kurz den Kopf in Richtung des Fürsten und eilte hinaus.

„Bitte verzeiht mein ungebührliches Verhalten gegenüber einem Angehörigen Eures Hofes“, sagte Härlinger.

„Nicht Ihr habt Euch ungebührlich verhalten, Meister.“ Trotz der ernsten Situation lächelte der Fürst. „Mein Leibarzt ist manchmal ein sehr eitler Mensch, dessen Interesse in erster Linie seiner eigenen Person gilt. Doch nun wollen wir diesen unangenehmen Zwischenfall vergessen. Ich bitte Euch, Seine Exzellenz zu untersuchen.“

Härlinger nickte und trat an das Bett. Nikolaus von Reichenbach hatte die Augen fest geschlossen und schien zu schlafen. Sein Gesicht hatte einen wächsernen Hautton und glänzte nass vom Schweiß.

„Joseph, entferne die Decke“, sagte Härlinger.

„Dagegen muss ich protestieren“, sagte der Diener.

„Um Seiner Exzellenz helfen zu können, muss ich mir ein genaues Bild von allem machen.“

„Meister…“

„Joseph! Meister Härlinger ist Arzt! Glaubst du, er hat noch nie einen Menschen im Nachtgewand gesehen?“

„Davon bin ich überzeugt, Durchlaucht. Es ist nur…“

Kronenberg verstand. „Ich werde dort am Fenster warten, damit ich bei der Untersuchung nicht störe.“

Härlinger tastete den massigen Leib des Bischofs ab und drückte vorsichtig mit den Fingerspitzen auf den Bauch. Dem Kranken entfuhr ein Stöhnen, doch er erwachte nicht aus dem Fieberschlaf.

„Hab‘ ich mir gedacht“, murmelte der Arzt und zog die Decke über den Bauch des Patienten. Dann sah er Joseph an. „Geh in die Küche und besorge frisches Wasser, ein Stück Brot und ein Stück Speck.“

„Wasser, Brot und Speck?“ wiederholte der Diener. „Verzeihung, Meister Härlinger, aber als Doktor von Anguria nach einer Gänsekeule schickte…“

„Joseph! Hole, worum Meister Härlinger dich gebeten hat!“

„Selbstverständlich, Durchlaucht. Wasser, Brot und Speck.“

Der Fürst trat neben den Arzt. „Ihr seid zu einem Ergebnis gelangt?“ frage er leise.

„Das bin ich, Durchlaucht. Seine Exzellenz…“ Weiter kam der Arzt nicht. Joseph war außer Atem zurück und stellte einen Krug Wasser und einen Becher auf den Tisch. Das Brot und den Speck reichte er dem Arzt. Der griff zu und biss kräftig in das dunkle Brot.

„Meister Härlinger?“

„Joseph, das Brot und der Speck sind für mich. Ich hatte den ganzen Tag noch keine Gelegenheit, etwas zu essen.“ Härlinger schluckte das letzte Stück Speck hinunter und wischte sich die Hände an einem Tuch ab. „Hilf mir, Seine Exzellenz aufzusetzen.“

Vorsichtig richteten sie den Bischof auf. Joseph stopfte dicke Kissen in den Rücken des Kranken und sorgte dafür, dass der Mann aufrecht saß.

Benommen schlug Reichenbach die Augen auf. „Meister Härlinger! Was tut Ihr hier? Geht es mit mir zu Ende?“

„Nicht sprechen, Exzellenz. Ihr müsst Euch schonen.“ Aus seiner Tasche holte der Arzt eine kleine Flasche und träufelte drei Tropfen einer grünen Flüssigkeit in den Becher Wasser.

„Trinkt das, Exzellenz. Es wird Eure Schmerzen im Bauch lindern.“

„Kann es überhaupt richtig sein, in Gottes Geschick eingreifen zu wollen?“ flüsterte der Bischof. „Ist es nicht Gottes Entscheidung, das zurückzunehmen, was er einst geschaffen hat? Diese Sonnenfinsternis ist ein Zeichen des Unheils. Womöglich ist sie der Auftakt zum Jüngsten Gericht!“

„Die Sonnenfinsternis ist ein Naturereignis und keinesfalls für Eure Schmerzen verantwortlich.“ Joseph hielt dem Bischof den Becher an die Lippen. Langsam trank der Kranke ein paar Schlucke und ließ sich zurück in die Kissen sinken. „Meister, Ihr seid…“ Nikolaus von Reichenbach war wieder eingeschlafen und schnarchte leise.

„Öffne das Fenster“, sagte Härlinger zu Joseph. „Der Kranke braucht frische Luft. Wenn er aufwacht, darf er nur etwas Wasser zu sich nehmen. Erst wenn die Schmerzen weg sind, sollen ihm die Weibsleute eine dünne Hühnersuppe kochen. Hast du das verstanden?“

„Ja“, nickte Joseph.

Der Fürst folgte dem Arzt nach draußen. „Auf ein ehrliches Wort, Meister Härlinger“, sagte er. „Was fehlt Bischof Nikolaus?“

„Durchlaucht, nun, es ist so, dass Seine Exzellenz Probleme mit der Galle hat“, versuchte der Arzt möglichst diskret das Leiden zu erklären. „Solche Beschwerden entstehen oft nach dem übermäßigen Verzehr von zu fettigen Speisen.“

Ungläubig sah der Fürst den Arzt an. Um seinen Mund zuckte es. Schließlich brach er in schallendes Gelächter aus. „Wollt Ihr damit sagen, dass der Bischof sich schlicht und einfach überfressen hat?“

„Durchlaucht haben es sehr direkt auf den Punkt gebracht“, schmunzelte Härlinger.

„Ich wundere mich nur, dass Anguria das nicht erkannt hat“, sagte Kronenberg, als er sich beruhigt hatte.

„Nun, vielleicht fehlt meinem geschätzten Kollegen die Erfahrung mit dieser Art von Beschwerden“, sagte Härlinger diplomatisch.

„Wie dem auch sei – Ihr habt Bischof Nikolaus geholfen und dafür gebührt Euch mein Dank.“

„Durchlaucht!“ Härlinger beugte das Knie. „Wenn Ihr gestattet, werde ich morgen noch einmal nach Seiner Exzellenz sehen.“

„Ich gestatte.“

„Doch jetzt bitte ich, mich zu entschuldigen. Ich muss zurück in meine Praxis.“

*

Eine Woche später.

Die Glocken von Sankt Marien begannen zu läuten. Zuerst verhalten, wurde ihr Klang immer lauter, erfüllte jeden Winkel und drang über die Stadtmauer in die Dörfer.

Cornelia stand am Fenster in der Studierstube und betrachtete die nach St. Marien eilenden Menschen. Wieder und wieder hatte sie versucht, den Webern, Handwerkern, Färbern und Marktleuten die bevorstehende Sonnenfinsternis mit einfachen Worten zu erklären, aber immer war sie auf taube Ohren gestoßen, war verspottet, ausgelacht oder beleidigt worden. Erst in der letzten Woche war sie weinend nach Hause zurückgekommen. Weder Härlinger noch Johannes wussten, was passiert war, denn Cornelia hatte kein Wort über den Vorfall verloren.

„Es wird Generationen dauern, bis die einfachen Leute die moderne Wissenschaft verstehen“, brummte Härlinger, als habe er Cornelias Gedanken gelesen. Mit Fingerspitzengefühl richtete er das Fernrohr aus. „Vielleicht werden erst die Kinder der Kinder deiner Kinder Blitz und Donner, Regen und Schnee als Naturereignisse und nicht den alleinigen Willen des Schöpfers verstehen.“ Der alte Arzt strich seiner Tochter tröstend über den Arm. „Neues braucht seine Zeit, ehe es vorsichtig akzeptiert wird. Glücklicherweise steht der Fürst unserer Arbeit sehr aufgeschlossen gegenüber.“

„Der Bischof dafür umso weniger“, murmelte Cornelia.

„Genau darüber muss ich mit dir sprechen, mein Kind. Ich habe erfahren, dass du eine kleine Auseinandersetzung mit einem Wanderprediger hattest?“

Beschämt senkte Cornelia den Kopf. „Ja. Es war falsch von mir, den Mann so zu behandeln. Aber mit seinem wirren Gerede hat er die Leute noch mehr verunsichert. Bitte verzeiht mir, Vater, dass ich Euren guten Ruf durch mein Handeln gefährdet habe.“

„Oft gefährden wir uns selbst durch unbedachte Worte. Doch die Gefahr, dass die Worte auf den fruchtbaren Boden von Neid und Hass fallen, ist sehr groß. Sei deshalb immer vorsichtig mit deinen Äußerungen.“

„Ja, Vater.“

„Eines darfst du nie vergessen Cornelia.“ So ernst hatte Cornelia ihren Vater schon lange nicht mehr gesehen. „Unsere wissen-schaftliche Arbeit hängt vom Wohlwollen Seiner Durchlaucht ab. Und damit letztendlich auch von dem des Bischofs.“ Endlich lächelte Härlinger wieder. „Ist es wahr, dass du den Mönch ins Wasser geschubst hast?“

„Ich würde eher sagen, dass er gestrauchelt ist und dabei das Gleichgewicht verloren hat“, murmelte Cornelia. Bei der Erinnerung stieg das Lachen in ihr hoch und brach sich schließlich Bahn. „Vater, Ihr hättet sehen müssen, wie der Mann im Brunnen lag. Auf dem Rücken wie ein Maikäfer. Um ihn herum trieben seine aufgeweichten Wegbeschreibungen ins Paradies wie die Schiffchen, die die Kinder gern auf der Welster schwimmen lassen.“

Das Glockenläuten war verstummt. Der Bischof stand auf der Kanzel, die er fast völlig ausfüllte. Im Mittelschiff der Kirche waren die hölzernen Bänke dicht besetzt. In den Seitenschiffen und auf den beiden Emporen drängten sich die Menschen, ebenso auf dem Platz vor der Kirche. Die Türen waren weit geöffnet, um jeden an Reichenbachs Predigt teilhaben zu lassen. Der Wind trug einzelne Worte bis hinüber zu Härlingers Haus.

„Nur Gott allein bestimmt, ob die Erde am Ende des heutigen Tages noch existiert“, dröhnte die Stimme des Bischofs. „Gott erschuf die Welt und Gott hat das Recht, diese Welt zu vernichten. Wenn der Mond die Sonne verschlingt, liegt unser aller Schicksal in den Händen des Allmächtigen. Lasst uns gemeinsam für ein gutes Ende beten!“

Ein vielstimmiges Gemurmel hob an, schwoll auf und ab. „Amen!“

„Amen.“ Fürst Orlando bekreuzigte sich. Zusammen mit seinen engsten Beratern hatte er in der Schlosskapelle gebetet. Rasch lief er in seine Gemächer. Er öffnete das Fenster und sah hinaus. Die Sonne strahlte von einem wolkenlosen Himmel. Aufmerksam las der Fürst noch einmal die Aufzeichnungen, die Cornelia über die Sonnenfinsternis verfasst und reich illustriert hatte. Wenn sich das bestätigte, was mit Tinte niedergeschrieben war, so würde seine wissenschaftliche Arbeit einen gewaltigen Schritt machen.

Auch Cornelia und ihr Vater blickten gespannt in den Himmel. „Was, wenn die Berechnungen falsch sind?“ fragte die junge Frau. „Was, wenn die Gelehrten sich geirrt haben und die Sonnenfinsternis gar nicht heute stattfindet?“

„Dann hat unser guter Bischof einmal mehr umsonst gebetet“, brummte Härlinger. Er war mit seinen Gedanken nicht ganz bei der Sache, denn noch immer hatte er nicht mit Cornelia über das Angebot des Fürsten gesprochen. Vielleicht war jetzt eine gute Gelegenheit. „Johannes“, sagte er leise, „würdest du Cornelia und mich einen Augenblick allein lassen?“

Der Mann warf Cornelia einen fragenden Blick zu und nickte. „Natürlich, Meister.“

„Cornelia, ich muss etwas mit dir besprechen.“ Der Arzt nahm seine Tochter an die Hand und führte sie zu einem Stuhl. „Höre mich bitte erst an und entscheide nicht vorschnell.“ Mit sorgfältig gewählten Worten erzählte er von dem Angebot des Fürsten, Cornelia an den Hof zu holen, um ihre Forschungen noch besser unterstützen zu können.

Die junge Frau sagte kein Wort. Nur ihr bleiches Gesicht verriet, wie aufgewühlt sie war. „Danke, dass Ihr mit mir gesprochen und mich nicht gleich verkauft habt, Vater“, sagte sie bitter, als Härlinger geendet hatte.

„Cornelia, ich werde dich nicht verkaufen. Aber du weißt ebenso wie ich, dass wir Seiner Durchlaucht den Schutz verdanken, den wir haben. Bischof Reichenbach ist uns alles andere als wohlgesonnen und würde uns lieber heute als morgen der Ketzerei anklagen.“

„Vater! Wir leben in einer modernen Zeit, in der es keine Ketzerei mehr gibt.“

„Noch ist in den Köpfen der meisten Menschen dieses alte Denken fest verankert, diese Schuldsuche, wenn etwas unerklärlich ist“, sagte Härlinger leise. „Nur wenige sind bisher mit uns den Weg des Fortschritts gegangen. Die Kirche wird immer versuchen, an ihren Machtstrukturen festzuhalten, und Bischof Nikolaus wird immer wissen, auf wessen Seite er stehen muss, um nicht selbst zum Verlierer zu werden.“

Cornelia schwieg. Sie wusste, dass ihr Vater recht hatte. Aber war sie wirklich bereit, ihr einfaches und glückliches Leben einzu-tauschen gegen ein Leben voller Intrigen am Fürstenhof?

„Bitte verzeiht, Vater, dass ich Euch nicht sofort eine Antwort geben kann“, sagte sie tonlos. „Ich muss darüber nachdenken.“

Johannes trat ein. In der Hand hielt er eine Schatulle. „Dies brachte eben ein Bote vom Schloss“, sagte er. „Mit den besten Wünschen Seiner Durchlaucht.“

Verwundert hob Härlinger den Deckel an. „Das habe ich in den Aufzeichnungen aus dem Kloster gelesen“, rief Cornelia aufgeregt, als sie den Inhalt erblickte. „Damit kann man seine Augen schützen.“

„Mein liebes Kind, ich weiß sehr wohl, was eine Brille ist, trage ich doch selbst eine. Aber mit schwarzen Gläsern? Wie soll man da etwas erkennen?“

„Nicht irgendetwas, sondern nur die Sonne. Probiert es aus!“

Kopfschüttelnd sah Härlinger, wie seine Tochter sich eine von diesen Brillen auf die Nase schob und in die Sonne starrte. Johannes zog einen Brief aus der Schatulle und reichte ihn Härlinger.

„Meister Härlinger! Mein geschätzter Freund! Nehmt dieses kleine Geschenk als Zeichen meiner Bewunderung für Eure Arbeit. Orlando Fürst von Kronenberg. – Ein sehr großzügiges Geschenk seiner Durchlaucht.“

„Wer weiß, was er als Gegenleistung verlangt“, knurrte Johannes.

Die Glocken begannen wieder zu läuten. Gebannt starrten Härlinger, Cornelia und Johannes in den Himmel. Die Sonne war von einem schmalen dunklen Streifen bedeckt, der sich langsam vor das Gestirn schob. Ein kühler Wind, wie sonst abends nach Sonnenuntergang wehte durch die Gassen. Die Vögel hörten auf zu singen und flogen auf ihre Schlafplätze. Der Mond verdeckte jetzt vollständig die Sonne. Am Rand der schwarzen Scheibe flammten Strahlen auf.

„Faszinierend“, murmelte Härlinger. „Es ist genauso, wie es schon vor Hunderten von Jahren beschrieben wurde.“

Stück für Stück wanderte der Mond weiter und gab dabei die Sonne wieder frei. Die Dunkelheit und die Nachtkühle verschwanden.

„Der Herr ist uns gnädig gesonnen“, rief Bischof Nikolaus. „Lobet und preiset den Herrn!“ Die Orgel dröhnte. Laut singend dankten die Menschen Gott für seine Gnade, die Welt zu erhalten.

Härlinger nahm seine Brille ab und legte sie in die Schatulle zu den anderen. „Johannes! Lauf hinüber in den ‚Ratskeller‘ und hol ein Viertel Rotwein. Wir wollen feiern!“

*

Kronenberg streifte seine Handschuhe ab und tätschelte Domerian den Hals. Der Hengst schnaubte. Über den Marktplatz wehten die ersten bunten Blätter. Die Luft war kühl und klar nach dem Regen der vergangenen Nacht.

Mit forschen Schritten betrat der Fürst das Haus des Arztes. „Meister Härlinger! Ist Eure Tochter zugegen?“

„Meine Tochter? Gestattet mir die Frage, was Ihr mit Cornelia zu besprechen wünscht.“

„Nun, Meister Härlinger, da Ihr mir seit dem Sommer die Antwort auf meine Frage schuldet, bin ich gekommen, um Eurer Tochter die Gelegenheit zu geben, mir selbst zu antworten. Ist sie im Hause?“

„Durchlaucht, ich…“

Kronenberg wippte ungeduldig auf den Schuhspitzen. „Meister Härlinger! Ich habe Euch eine klare Frage gestellt, auf die ich eine ebenso klare Antwort erwarte. Ist Cornelia im Hause?“

Am drohenden Tonfall des Fürsten merkte Härlinger, dass er die Geduld des Herrschers nicht länger strapazieren durfte.

„Sie ist in der Studierstube“, murmelte er.

„Gut. Ich werde zunächst mit ihr allein sprechen.“

Cornelia beugte sich tief über ein Blatt Papier und schrieb sorgfältig die Rezeptur für eine Salbe auf. Johannes stand am Schrank und sortierte Flaschen.

„Wann wirst du Vater fragen?“ wollte Cornelia plötzlich wissen, ohne ihre Arbeit zu unterbrechen.

„Bald“, murmelte Johannes, „bald. Noch ist mein Wissen um die Heilkunst zu gering, als dass ich deiner würdig wäre.“

„Liebster“, seufzte Cornelia, „wie oft soll ich dir sagen, dass mein Vater dich sehr schätzt und gern als Gemahl an meiner Seite wüsste? Ich möchte alles mit dir teilen. Jeden und Tag und jede Nacht will ich dich bei mir wissen.“

Johannes stellte sich hinter Cornelia und vergrub sein Gesicht in ihren Haaren. „Aber was werden die Leute sagen? Dass der arme Waisenjunge, den dein Vater vor vielen Jahren großherzig aufgenommen hat, danach strebt, den Platz des Meisters einzu-nehmen?“

„Lass die Leute reden.“ Cornelia legte die Feder aus der Hand. „So, wie sie anfangen zu tratschen, so werden sie sich auch wieder beruhigen. Du und ich, wir gehören zusammen.“

„Meisterin Cornelia!“

„Durchlaucht!“

„Lass uns allein, Bursche! Ich habe mit der Meisterin zu sprechen.“

„Sehr wohl, Durchlaucht.“ Johannes warf Cornelia einen fragenden Blick zu, ehe er die Tür hinter sich schloss.

„Was kann ich für Eure Durchlaucht tun?“

Kronenberg trat so nahe an Cornelia heran, so dass sie seinen Atem auf ihrem Gesicht spürte. „Hat Euer Vater mit Euch gesprochen?“

„Worüber, Durchlaucht?“

Der Fürst trat noch näher an Cornelia heran. „Ihr wisst, dass ich Euch sehr schätze. Die Heilerin und die Wissenschaftlerin.“

Cornelia hatte das Gefühl, als würde plötzlich der Boden unter ihren Füßen schwanken. Jetzt war der Moment gekommen, vor dem sie sich seit Wochen fürchtete.

„Ihr gestattet, dass ich offen spreche? Kommt an meinen Hof. Es soll Euch an nichts fehlen. Ich werde Eure Forschungen und auch die Eures Vaters mit allen Mitteln unterstützen.“

„Eine Unterstützung, die eine Gegenleistung erwartet.“

„Cornelia! Wie könnt Ihr so von mir denken? Ich biete Euch ein sorgenfreies Leben. Seid versichert, dass nichts geschehen wird, was nicht auch Ihr wollt.“

Unwillkürlich wich die Frau einen Schritt zurück. „Durchlaucht, Ihr habt offen zu mir gesprochen, wofür ich Euch danke. Jetzt gestattet mir die gleiche Offenheit Euch gegenüber.“

Kronenberg nickte.

„Der Wissenschaftlerin Cornelia würde es nicht schwerfallen, an Eurem Hof zu leben und mit Euch Gedanken auszutauschen.“ Ganz kurz zögerte die Heilerin, ehe sie weitersprach. „Die Frau Cornelia jedoch wird Euch nicht folgen. Ich bin niemandes Mätresse und werde es auch niemals sein.“

Der Fürst wusste, dass er diesen Kampf verloren hatte. Er lächelte, doch seine Augen blieben kalt. „Verzeiht einem Narren, dass er Euch sein Herz offenbarte.“

*

Ein paar Tage später saßen der Kronenberg und Nikolaus von Reichenbach im Spiegelsaal des Schlosses. Auf dem Tisch vor ihnen stand ein Schachspiel. Die Figuren aus Elfenbein und Gold glänzten im Schein der Kerzen. In schweren Kristallkelchen funkelte Rotwein. Der erste Herbststurm fegte über das Land, ließ die hölzernen Fensterläden klappern und brachte die Bäume auf dem Schlossberg gefährlich ins Schwanken.

Nach der Gallenkolik im Sommer hatte sich der Bischof dank Härlingers Tinkturen rasch erholt und war zu seiner gewohnten Lebensweise zurückgekehrt. Mit hochrotem Gesicht saß er im Sessel, der seinen massigen Körper wie eine Klammer fest umspannte.

„Durchlaucht, ich soll Euch von Gräfin Amalia grüßen“, sagte er beiläufig, während er seine Dame auf dem Schachbrett weiterschob.

„Ach ja, Eure Cousine.“ Kronenberg trank einen Schluck Wein.  „Wie geht es ihr?“

„Danke der Nachfrage, sehr gut. Gräfin Amalia hat mir anvertraut, dass sie sich über einen Besuch Eurer Durchlaucht auf ihrem Landsitz freuen würde.“

Kronenberg nahm seinen Springer, überlegte, setzte ihn zurück auf das Spielfeld. Der nächste Zug wollte gut überlegt sein, nicht nur auf dem Brett. „Richtet Eurer Cousine meinen Dank für die freundliche Einladung aus“, sagte er diplomatisch. „Doch meine Geschäfte erlauben mir derzeit keine längere Abwesenheit vom Hofe.“

„Wenn ich Durchlaucht einen Rat geben dürfte – als Freund?“

„So sprecht!“

„Ich hatte eine längere Unterredung mit Eurem Schatzmeister. Wie er mir sagte, steht es mit den Finanzen unseres Landes nicht gerade zum Besten.“

„Martin ist ein alter Schwarzseher“, entgegnete der Fürst. „Er wird immer jammern, ganz gleich, ob die Kassen leer oder gut gefüllt sind.“

„Gronitz ist eines der wenigen Länder im ganzen Reich, in dem Frieden herrscht. Diesen Frieden und die Zufriedenheit der Gronitzer mit ihrem Regenten solltet Ihr nicht aufs Spiel setzen.“

Nachdenklich schob der Fürst einen Läufer weiter. „Was genau wollt Ihr damit sagen, Exzellenz?“

„Durchlaucht investieren nicht unbeträchtliche Summen in wissenschaftliche Dinge.“

„Darin stimme ich Euch zu. Denn auch wenn Gronitz ein kleines Land ist, so heißt das nicht, dass wir rückständig sind. Wir müssen mit der Zeit gehen, und diese neue Zeit ist nun einmal von vielen Forschungen und Entdeckungen geprägt, die Geld kosten.“

„Das ist richtig, Durchlaucht.“ Der Bischof lächelte. „Aber damit diese Dinge weiterhin bezahlbar bleiben, ohne dass das Volk leiden muss, ist manchmal ein Übereinkommen von Vorteil.“

„Was schlagt Ihr vor?“

„Macht Gronitz politisch so stark, wie es wirtschaftlich schon ist.“ Reichenbach hielt sein Weinglas gegen das Licht. „Ein vorzüglicher Tropfen.  Mit einer passenden Verbindung könnte Gronitz schon in kürzester Zeit zu den einflussreichsten Ländern gehören.“

„Worauf genau wollt Ihr hinaus, Bischof? Ihr habt doch bestimmt schon einen Plan?“

„Was spricht gegen eine Verbindung mit dem Hause Schönfeldt?“

„Was spricht für eine Verbindung mit dem Hause Schönfeldt?“ konterte der Fürst. „Eure Cousine ist eine bemerkenswerte Frau und sicher sehr begehrenswert. Aber nicht von mir.“

„Eine Ehe mit meiner Cousine würde…“

„… zweifellos Eure Position an meinem Hofe noch weiter stärken.“ Kronenberg sprang auf. Wie ein gereizter Tiger lief er hin und her.

„Ich würde es nie wagen, in Eure Geschäfte und Belange einzugreifen. Mein Anliegen ist es lediglich, Euch beratend zur Seite zu stehen.“

Langsam drehte sich der Fürst um. „Bischof Nikolaus von Reichenbach! Ich weiß Eure Sorge und Fürsorge durchaus zu schätzen! Seid versichert, dass ich Euch um Euren Rat bitten werde, wenn ich ihn brauche.“

„Durchlaucht, ich wollte Euch weder bevormunden noch kränken. Lasst uns unser Spiel fortsetzen.“

„Spielt, mit wem Ihr wollt. Mir ist die Lust vergangen.“ Fürst Orlando öffnete eine kaum sichtbare Tür zwischen zwei raumhohen Spiegeln und verschwand. Der Bischof lächelte kalt. Er trank einen Schluck Rotwein und ließ ihn genüsslich die Kehle hinunterrinnen. Dann nahm er seinen König vom Schachbrett, hielt ihn zwischen Daumen und Zeigefinger der rechten Hand. Für einen kurzen Moment des Überlegens schwebte die Figur über dem Spielfeld. „Schachmatt!“

*

Leise klopfte Härlinger an die Tür der Stube seiner Tochter. „Cornelia? Ratsherr Bamberger und der Herr Pfarrer sind da.“

„Ich komme gleich, Vater.“

Die junge Frau saß auf dem Stuhl, der zwischen den beiden kleinen Fenstern stand. Seit der Nacht regnete es in Strömen. Die Tropfen liefen wie Tränen die Butzenscheiben hinab. Der Wind hatte auf Süden gedreht. Die Luft war schwer und roch eher nach Frühling als nach Herbst. Langsam stand Cornelia auf und trat vor den Spiegel. Sie trug ein dunkelblaues Kleid ohne jegliche Verzierungen, das in seiner Schlichtheit ihre Schönheit betonte. Die langen Haare waren kunstvoll geflochten und mit einem Tuch in der gleichen Farbe wie das Kleid bedeckt. Aus dem Spiegel sah Cornelia eine Frau entgegen, in deren Augen Zweifel zu sehen waren, obwohl dies der schönste Tag in ihrem Leben werden sollte. Sie holte tief Luft und schalt sich eine Närrin. Was hatte sie zu befürchten? Zwischen ihrem Vater, Johannes und ihr würde sich nichts ändern. Der Fürst hatte, wenn auch widerwillig, seine Zustimmung zu der Verbindung gegeben. Lächelnd legte sie eine Hand auf ihren Bauch. Schon im Sommer würden sie nicht mehr zu dritt, sondern zu viert sein. Sie warf ihrem Spiegelbild einen letzten Blick zu, raffte das Kleid und ging nach unten.

In der Studierstube warteten Härlinger und Johannes, Ratsherr Bamberger und Pfarrer Fritsche.

„Cornelia!“, sagte der alte Geistliche. „Mir scheint, als sei es erst gestern gewesen, als ich dich getauft habe. Und heute steht vor mir eine wunderschöne junge Frau, die bereit ist, an der Seite eines Mannes den Weg in ein neues Leben zu gehen.“ Fragend sah der Pfarrer den Stadtrat an.

Der nickte. „Als Vertreter der Stadt Gronitz darf ich feststellen, dass die Heiratserlaubnis für Johannes Decker mit Cornelia, Tochter des Meister Härlinger vorliegt und von Seiner Durchlaucht, Orlando Fürst von Kronenberg, bestätigt wurde.“

„Damit steht einer Verbindung nichts im Wege. Johannes Decker! Bist du freien Willens, vor Gott die hier anwesende Cornelia Härlinger zu deinem Weibe zu nehmen, sie achten und zu ehren, bis dass der Tod euch scheidet?“

„Ja, ich will.“

„Cornelia Härlinger! Bist du freien Willens, vor Gott den hier anwesenden Johannes Decker zu deinem Manne zu nehmen, ihn zu achten und zu ehren, bis dass der Tod euch scheidet.“

„Ja, ich will.“

„So erkläre ich euch hiermit vor Gott zu Mann und Frau!“

Der frischgebackene Schwiegervater wischte sich eine Träne aus dem Augenwinkel. „Cornelia! Johannes! Meine Kinder!“

„Vater!“ Es fiel Johannes sichtlich schwer, den Mann, zu dem er all die Jahre voller Ehrfurcht aufgeblickt hatte, plötzlich so vertraut anzureden. „Vater, ich verspreche, dass ich Eure Tochter immer achten und ehren werde.“

„So ist es recht, mein Junge. Doch jetzt wollen wir eure Vermählung gebührend feiern!“

Mit einer einladenden Geste wies Härlinger auf die Tür zur Wohnstube. Hier hatten die Mägde vom „Ratskeller“ ein Hochzeits-mahl aufgetischt. Auf großen Platten waren Gänsekeulen, geräucherte Fische und Brot appetitlich angerichtet, dazwischen standen Schalen mit Früchten. Dunkelroter Wein funkelte in den Gläsern.

„Lasst uns unsere Gläser auf das junge Paar erheben“, sagte der Ratsherr feierlich und trank den Frischvermählten zu. „Doch jetzt muss ich mich leider verabschieden. Auf mich warten dringende Geschäfte.“

Pfarrer Fritsche schloss sich dem Ratsherrn an. „Auch ich kann nicht bleiben“, sagte er. „Ich muss meine Predigt vorbereiten. Nochmals dem jungen Paar alles Gute.“

„Ich begleite euch hinaus“, brummte Härlinger.

Johannes wartete, bis der Arzt die Tür hinter sich geschlossen hatte und nahm Cornelia in die Arme. „Jetzt bist du nicht mehr des Meister Härlinger Tochter.“

„Nein. Jetzt bin ich Cornelia, das Eheweib von Johannes Decker. Es kommt mir wie ein Traum vor.“

„Ein Traum, der wahr geworden ist. Es ist ein wunderbares Gefühl, dich für immer an meiner Seite zu haben und alles mit dir zu teilen.“

Härlinger kam zurück. „Als ich die Herren hinausbegleitete, brachte ein Bote vom Schloss eine Nachricht. Komm herein!“

Zögernd trat der junge Mann näher. Aus seiner Rocktasche holte er einen versiegelten Brief. „Dies sollte ich Euch von Seiner Durchlaucht überreichen mit den besten Wünschen.“

Mit zitternden Händen erbrach Cornelia das Siegel. Ein Taler fiel aus dem Umschlag und rollte über den Tisch.

„Möge Euer Leben und Euer Hausstand immer reich gesegnet sein“, las Johannes laut vor. „Richte Seiner Durchlaucht unseren Dank aus.“

*

Seit Tagen fiel aus tiefhängenden dunkelgrauen Wolken fast ununterbrochen Schnee. Auf dem Marktplatz waren die Stände der Händler nur mühsam zwischen den zur Seite geräumten Schnee-haufen zu erreichen. Aus den Schornsteinen stieg Rauch in den Winterhimmel und bildete in der Enge des Tals eine schmutziggraue Nebeldecke.

Gernot nahm seinen Tragekorb vom Rücken und stellte ihn ab. „Glatt ist’s vom Schloss herunter“, sagte er. „Beinahe wäre ich gestürzt.“

„Bist du aber nicht“, gab Gunhilde kurz angebunden zurück. „Wie viele Hühner willst du?“

„Gib mir alle. Im Schloss findet ein Festmahl statt.“

„Ich denke, Fürst Orlando und der Bischof verbringen die Weihnachtstage auf Gut Schönfeldt?“ fragte die Händlerin, während sie die Hühner in Gernots Tragekorb packte.

„Für die Bediensteten gibt es ein Festmahl mit allem, was sonst nur auf der Tafel des Fürsten zu finden ist. Ein sehr großzügiges Geschenk Seiner Durchlaucht.“

„Wahrlich sehr großzügig“, stimmte Gunhilde zu. „Brauchst du noch etwas?“

„Nein. Aber verrate mir, warum du heute so traurig bist. So kenne ich dich gar nicht.“

Trotzig wischte sich Gunhilde eine Träne ab. „Es ist nichts.“

„Komm schon. Erzähl es mir. Ich bin dein Freund. Vielleicht kann ich dir helfen.“

„Um diese Zeit wird mir immer das Herz schwer“, murmelte die Frau. Gernot beugte sich vor, um jedes Wort zu verstehen. „Es liegt Jahrzehnte zurück, dass mir ein Krieg Mann und Sohn nahm. Am Tag vor dem Heiligen Abend brachte mir ein Kurier des Königs die Nachricht, dass beide in der Schlacht…“ Weiter konnte Gunhilde nicht sprechen. Sie holte tief Luft. „Vielleicht kannst du jetzt verstehen, warum ich diese Zeit hasse.“

„Freunde können eine Familie zwar nicht ersetzen, aber sie helfen gegen die Einsamkeit. Komm über Weihnachten zu uns ins Schloss.“

„Du meinst es gut, Gernot, und ich danke dir dafür. Doch lass mich diese Tage so verbringen, wie ich es all die Jahre getan habe.“ Demonstrativ begann die Geflügelhändlerin ihre Sachen zusammen-zupacken. „Mach dich besser auf den Rückweg“, sagte sie und zeigte auf die dunklen Wolken. „Wie es aussieht, zieht ein Schneesturm auf.“

„Ja, du hast recht. Hühnerweib, willst du nicht doch…

„Nein! Wir sehen uns nach den Weihnachtstagen. Gesegnetes Fest, Gernot!“

„Gesegnetes Fest!“

Der Mann hob seinen Tragekorb auf den Rücken. Nachdenklich sah er der Geflügelhändlerin nach, wie sie mit ihrem leeren Karren im dichter werdenden Schneefall verschwand. Erst als sie nicht mehr zu sehen war, blies er sich in die kalten Hände und machte sich sehr nachdenklich auf den Weg zum Schloss.

*

Zur gleichen Stunde stand Cornelia in der Wohnstube und betrachtete den Baum, den ihr Gemahl hereingeschleppt hatte. Die Zweige der Fichte waren mit Schnee bedeckt, der in der Wärme zu tauen begann und Pfützen auf dem Holzboden bildete.

„Gefällt er dir?“ Johannes wischte sich Schnee aus den Haaren und aus dem Bart.

„Nun, ich weiß es durchaus zu schätzen, dass in diesem Jahr eine Fichte aus dem Bestand Seiner Durchlaucht unser Weihnachtsfest verschönern wird, aber findest du ihn nicht ein wenig zu groß? Man kann in der Stube ja kaum noch laufen.“

„Tatsächlich?“ Erstaunt sah sich Johannes um. Er hatte Tisch und Stühle an die Wand geschoben, als er den Baum gebracht hatte, aber nur, um ihn bequem aufstellen zu können.

„Dein Vater hat dem Gärtner gesagt, dass er Seine Durchlaucht beneidet, weil im Schloss immer der größte und schönste Weih-nachtsbaum im ganzen Land steht.“

„Und als Dank für den gezogenen Zahn hat der alte Immanuel Vater dieses Prachtexemplar gegeben?“ Cornelia kannte die Antwort und brach in helles Gelächter aus. „Ein Weihnachtsbaum aus dem Wald des Fürsten als Dank für eine medizinische Leistung. Auf so etwas können wirklich nur zwei Kindsköpfe kommen.“

„Sieh mal, was ich besorgt habe.“ Johannes öffnete die Truhe und holte ein flaches Päckchen heraus.

„Kleine Kerzen?“ fragte Cornelia. „Ich habe gehört, dass manche Leute ihren Baum damit schmücken, aber ich kann es mir gar nicht so recht vorstellen.“

„Dann wird es höchste Zeit, dass wir uns von der neuen Mode anstecken lassen.“ Vorsichtig bog Johannes ein paar Stücke Draht zurecht und befestigte die Kerzen an den Zweigen. Cornelia hängte Äpfel und Walnüsse dazu, dazwischen Strohsterne.

„Ich finde, unser Weihnachtsbaum ist der Schönste in ganz Gronitz“, sagte Johannes und hauchte seiner Frau einen Kuss auf die Stirn.

„Wie kannst du das behaupten? Du hast die anderen doch gar nicht gesehen.“

„Das brauche ich auch nicht. Ich weiß es. Vater wird der gleichen Meinung sein.“

„Das ist er!“ dröhnte Härlinger. „Johannes hat recht. Es ist der schönste Weihnachtsbaum, den ich je gesehen habe. Und der größte.“

„Vater“, rief Cornelia erfreut. „Ihr seid schon zurück?“

„Die Verletzung war weniger schlimm als zunächst angenommen“, erklärte Härlinger, während er seine Stiefel auszog und sich aus dem Umhang schälte. „Ist das Essen fertig?“

„Ja. Setzt Euch, Vater. Und auch du, Johannes. Ich bringe es gleich.“

Cornelia stellte den gusseisernen Topf auf den Tisch. In einer dunklen Soße lag ein zarter Braten, der in den letzten Stunden im Ofen geschmort hatte. Dazu gab es Rotkohl und Brot und für die Männer Bier. Härlinger zerteilte das Fleisch und legte jedem höchstpersönlich ein großes Stück auf den Teller. Eine Weile war außer dem Kratzen der Gabeln und einem gelegentlichen wohligen Grunzen des Arztes nichts zu hören. Die Kerzen am Baum verbreiteten ein sanftes und geheimnisvolles Licht.

Schnaufend lehnte sich Härlinger zurück, faltete die Hände über dem Bauch und lächelte zufrieden. Johannes stieß Cornelia unter dem Tisch an. Aus den Augenwinkeln beobachteten sie, wie die Augenlider des alten Mannes schwerer und schwerer wurden. Schließlich sank sein Kinn auf die Brust. Ein leises Schnarchen bahnte sich seinen Weg nach draußen.

Cornelia schob ihren Stuhl zurück. Fast lautlos räumte sie den Tisch ab, während Johannes eine paar Scheite Holz in den Ofen legte. „Lassen wir Vater bis zur Mitternachtsmesse schlafen.“

Johannes nickte. Er umfasste seine Frau und schob sie vor sich her in die Studierstube. „Unser erstes Weihnachtsfest als Eheleute. Mögen uns noch viele solcher friedlichen Feste beschieden sein.“

„Im nächsten Jahr ist unsere Tochter dabei“, lächelte Cornelia. „Oder unser Sohn.“

„Ja. Wir wollen unserem Kind immer gute Eltern sein und mit gutem Beispiel vorangehen.“ Johannes stellte sich neben Cornelia an das zugewehte Fenster. Der Schnee auf dem Marktplatz leuchtete. Die Pfotenabdrücke einer Katze waren die einzigen Spuren in dem frischen Weiß.

Die Glocken der Marienkirche begannen zu läuten. „Zeit für die Messe“, sagte Johannes.

Härlinger wartete schon fertig angezogen im Hausflur. Zur Feier der Geburt Jesu Christi trug er seinen besten Anzug und eine Jacke mit einem kleinen Pelzkragen. Sogar Lederstiefel hatte er angezogen, obwohl er viel lieber in seinen ausgetretenen Schuhen in die Kirche gegangen wäre.

Nahezu alle Gronitzer waren auf dem Weg zur Mitternachtsmesse. Die Glocken dröhnten gewaltig und erhaben durch die Nacht. Rings um den Kirchplatz waren Fackeln aufgestellt und erleuchteten den Weg. Die Türen standen weit offen. Härlinger und Johannes nahmen in ihrer Bank Platz, während sich Cornelia zu den Frauen setzte. Allmählich wurden die Gespräche leiser, gingen in ein Raunen und Murmeln über.

„Seine Durchlaucht, Orlando Fürst von Kronenberg!“ Durch den Mittelgang schritt der Regent, gefolgt von seinen engsten Beratern. Alle trugen Reisekleidung, denn direkt nach dem Gottesdienst würden sie nach Gut Schönfeldt aufbrechen und die Weihnachtstage auf Einladung von Gräfin Amalia auf deren Besitz verbringen. Kronenberg nickte huldvoll nach rechts und links und nahm in seiner Loge Platz.

Nikolaus von Reichenbach begann mit seiner Predigt. Währenddessen warfen sich Cornelia und Johannes immer wieder verliebte Blicke zu, was von den Tratschweibern mit miss-billigendem Kopfschütteln kommentiert wurde.

„Amen!“

„Amen!“ hallte es hundertfach in der Kirche wider.

Bischof Nikolaus stand an der Tür. „Ein gesegnetes Weihnachtsfest, ihr braven Leute“, murmelte er. „Ein gesegnetes Weihnachtsfest.“ Endlich hatte er den letzten Gronitzer verabschiedet. Hinter der Sakristei wartete die angespannte Kutsche mit dem bischöflichen Wappen. Reichenbach wickelte sich in seinen Reisepelz und machte es sich in den roten Samtpolstern bequem. „Kutscher!“ rief er laut. Die vier Braunen zogen an.

1788

MDCCLXXXVIII

Genieße deine Zeit,

denn du lebst nur jetzt und heute.

Morgen kannst du gestern nicht nachholen

 und später kommt früher, als du denkst.

                                                                                     Albert Einstein

Härlinger öffnete die Tür seiner Schlafstube einen Spalt und lauschte. Im Haus war es still. Vom Hof drangen Geräusche vom Holzhacken herüber. Barfuß tappte der Mann zu der Kommode, die neben seinem Bett stand. In der untersten Schublade bewahrte er Dinge auf, die zu betrachten nur er allein das Recht hatte. Nicht einmal Cornelia wusste, welche Geheimnisse sich hinter der mit Kupferbeschlägen verzierten Klappe verbargen.

Mit den Fingerspitzen ertastete Härlinger vorsichtig eine Schachtel. Er legte sie auf sein Bett und klappte den Deckel hoch. Alles verschwamm vor seinen Augen. Erst Cornelias Stimme holte ihn in die Wirklichkeit zurück.

„Vater“, rief sie, „Vater! Seid Ihr da?“

Rasch klappte Härlinger das kleine Kästchen zu und schob es in seine Hosentasche. „Ich komme!“

In der Küche duftete es nach Zucker und Zimt.

„Kuchen?“ Voller Vorfreude rieb sich der Arzt die Hände. Nur an besonderen Tagen kam eine solche Köstlichkeit auf den Tisch, denn Zucker und Zimt waren eine kostspielige Angelegenheit.

„Geht es Euch nicht gut?“ fragte Cornelia besorgt.

„Setz dich, mein Kind. Ich muss dir etwas sagen.“

Cornelia stellte die Schüssel, in der sie rührte, auf den Tisch und nahm ihrem Vater gegenüber Platz.

„Ich kann mich genau daran erinnern, wie es heute vor zwanzig Jahren war. Als die Glocken der Marienkirche zu Mittag läuteten, tat ein kleines Mädchen in einem Haus am Marktplatz den ersten Schrei seines Lebens.“ Härlinger sah seine Tochter voller Zärtlichkeit an. „Als ich dich in den Armen deiner Mutter liegen sah, weinte ich vor Glück. Ich war so stolz auf mein Weib, und ich bin ihr jeden Tag auf Neue dankbar für die wunderbare Tochter, die sie mir geschenkt hat.“

„Ihr macht mich verlegen, Vater“, murmelte Cornelia. „Dass, was ich bin und so, wie ich bin, verdanke ich Eurer Erziehung und Ausbildung.“

„Ich habe dich allein erzogen, das stimmt“, entgegnete Härlinger. „Aber ich bin sicher, dass mein Weib immer genau die gleichen Entscheidungen getroffen hätte. Es tut mir sehr leid, dass du ohne Mutter aufwachsen musstest.“

„Ihr habt mir alles gegeben, was ich gebraucht habe, Vater.“

„Kannst du dich noch an deine Mutter erinnern?“

„Nur daran, dass sie eine sehr angenehme Stimme hatte.“

„Cornelia, deine Mutter und ich haben bei deiner Geburt etwas anfertigen lassen, dass wir dir gemeinsam an deinem zwanzigsten Geburtstag schenken wollten. Jetzt muss ich es allein tun.“ Härlinger holte die Schachtel aus seiner Hosentasche und legte sie auf den Tisch. „Diese Kette soll dich immer daran erinnern, dass du mein Sonnenschein bist.“

„Vater, ich danke Euch von ganzem Herzen.“ Cornelia legte sich den Schmuck um den Hals. Der silberne Anhänger in Form einer Sonne leuchtete auf ihrer Haut.

„Ist der Kuchen endlich fertig?“

Die junge Frau lachte. Ihr Vater riskierte es für ein Stück Kuchen sogar, sich die Zunge und die Lippen zu verbrennen, wenn ihm das Abkühlen nach dem Backen zu lange dauerte.

„Ich hole ihn.“

Härlinger schnitt sich ein großes Stück ab, pustete darauf und schloss beim ersten Bissen genießerisch die Augen. „Hm“, brummte er. „Schade, dass du nur einmal im Jahr Geburtstag hast.“ Er lehnte sich zurück und leckte sich mit einem zufriedenen Grinsen die Krümel von den Lippen. „Ich will zu einem Patienten“, sagte er. „Es wäre sehr nett von Johannes, wenn er mir ein Stück Kuchen übriglassen würde.“

*

Erschöpft ließ Cornelia die Stricknadeln und die Wolle sinken. Je weiter die Schwangerschaft voranschritt, desto müder fühlte sie sich. Johannes und ihr Vater hatten ihr einvernehmlich verboten, Haus-besuche zu machen, Kräuter zu sammeln oder lange am Schreibpult zu stehen. Anfangs hatte sie heftig dagegen protestiert, aber schließlich doch nachgegeben. Bücken war inzwischen fast unmöglich. Bis zur Geburt konnte es nicht mehr lange dauern. Eigentlich rechnete die junge Frau jeden Augenblick mit der ersten Wehe, und gleichzeitig betete sie inständig darum, dass sich das Kind Zeit lassen möge bis zur Rückkehr ihres Mannes. Der war im Morgengrauen mit Pferd und Wagen nach Rheinsfeld aufgebrochen. Da es ihrem Vater nicht erlaubt war, Geburtshilfe zu leisten, wollte Johannes die alte Walpurgis zu holen, die schon Dutzenden Kindern und auch Cornelia auf die Welt geholfen hatte.

Härlinger war seit einer Weile nur noch ein Nervenbündel. Er aß und trank vor Aufregung kaum noch. Dafür fragte er seine Tochter alle Stunde, ob sie schon etwas spüre. Letzte Nacht hatte er sie sogar mehrmals mit dieser Frage geweckt. Erst als Johannes geschworen hatte, ihn bei dem geringsten Anzeichen einer Wehe zu holen, war er unter Murren in seine eigene Schlafkammer zurückgegangen.

Vor dem Haus hielt ein Wagen. Rasch steckte Cornelia die Nadeln in die Wolle und legte alles in einen Korb. Gleich darauf trat Johannes in die Stube, gefolgt von einer kleinen, kugelrunden Frau.

„Mein Kind“, sagte Walpurgis mit sanfter Stimme, „wie geht es dir?“

„Gut.“ Tapfer versuchte Cornelia, das Ziehen in ihrem Bauch zu ignorieren.

Walpurgis lächelte wissend. „Seit wann hast du Wehen?“

„In der dritten Nachmittagsstunde haben sie angefangen.“

„Cornelia! Niemand war bei dir! Wo ist Vater?“ Johannes war unter seiner Sonnenbräune blass geworden.

„Vater macht Hausbesuche. Wird es sehr weh tun?“ fragte Cornelia leise die Hebamme.

„Ja. Aber wenn du dein wunderschönes Kind in den Armen hältst, sind alle Schmerzen vergessen.“

„Das habe ich auch schon oft zu Frauen gesagt, deren Kindern ich auf die Welt geholfen habe“, murmelte die Heilerin. „Doch jetzt scheint es mir, als habe ich alle belogen.“

„Nein, das hast du nicht.“ Walpurgis reichte Cornelia die Hand und half ihr vom Stuhl hoch. „Ich denke, wir sollten uns in die Schlafstube begeben, damit du dich hinlegen kannst.“

„Liebster, bitte warte draußen“, sagte Cornelia. „Sorge vor allen Dingen dafür, dass Vater nicht hereinkommt.“

„Soll ich nicht doch…“

„Nein! Du kannst für mich im Augenblick nichts tun außer warten. Und Vater beruhigen“, fügte Cornelia lächelnd hinzu.

„Ich möchte aber…“

„Johannes! Geht endlich und stört uns nicht länger! Komm, Cornelia.“ Energisch schob die Hebamme die werdende Mutter in die Schlafstube und schloss die Tür.

Johannes stand unschlüssig im Flur. Er wusste, dass es Stunden dauern konnte, bis der erste Schrei des Neugeborenen zu hören war. Mit hängenden Schultern schlurfte er zur Haustür und trat hinaus auf den Marktplatz. Die Händler hatten ihre Stände abgebaut. Die Schatten wurden länger. Zwischen den Häusern stand die Hitze des Tages. Der Marktbrunnen plätscherte und versprach ein wenig Abkühlung. Nervös setzte sich Johannes auf den steinernen Rand. Von hier aus hatte er das Haus und das Fenster der Schlafstube genau im Blick. Was mochte sein geliebtes Weib wohl in genau diesem Augenblick machen? Litt sie an Schmerzen? Dachte sie vielleicht auch an ihn? Fragen über Fragen drängten sich dem Mann auf, die er alle nicht beantworten konnte. In der Fensterscheibe spiegelte sich die Abendsonne.

„Johannes!“ Die bekannte Stimme ließ ihn zusammenzucken.

„Vater!“

„Was tust du hier? Ist etwas mit… Oh mein Gott! Cornelia! Das Kind! Ich muss sofort zu ihr!“

„Vater, wartet!“

„Aber meine Tochter braucht meine Hilfe! Außerdem bin ich Arzt!“

„Der keine Geburtshilfe leisten darf.“ Johannes sprang vom Brunnenrand und stellte sich seinem Schwiegervater in den Weg. „Walpurgis ist bei Cornelia.“

„Walpurgis? Dann ist es wirklich besser, wenn ich nicht nach Hause gehe.“ Mit Unbehagen erinnerte sich Härlinger daran, wie die Hebamme ihn bei Cornelias Geburt beschimpft und schließlich sogar einen Schuh nach ihm geworfen hatte, weil er nur im Weg stand.

„Lass uns in den ‚Ratskeller‘ gehen“, schlug er vor.

„Nein.“

„Wie du willst.“ Aus eigener Erfahrung wusste Härlinger, dass er bei dem künftigen Vater auf taube Ohren stieß, ganz gleich, was er vorschlug. „Hol mich aber sofort, wenn es etwas Neues gibt.“

„Natürlich.“

Vor dem „Ratskeller“ drehte sich Härlinger noch einmal zu Johannes um. „Armer Junge“, brummte der Arzt. „Das was du jetzt durchleidest, haben schon tausende Männer vor dir gemusst, und unendlich vielen steht es noch bevor.“ Er seufzte tief. „Aber einem Mann, der kurz davor ist, Großvater zu werden, geht es nicht besser.“ Er öffnete die Tür und trat in den Schankraum. „Tamme! Bring mir ein Bier! Ein großes! Ein sehr großes!“

Walpurgis drückte Cornelia ein nasses Tuch auf die Stirn. „Ganz ruhig“, sagte sie. „Aufregung schadet dir.“

„Wie lange noch?“ stöhnte Cornelia.

„Das weiß nur dein Kind. Es allein entscheidet, wann es auf die Welt kommen möchte.“ Die Hebamme öffnete das Fenster, um die kühle Abendluft hereinzulassen. Ihr Blick fiel auf Johannes. Wie ein Häufchen Elend hockte er auf dem Brunnenrand.

„Versuche, ein wenig zu schlafen“, sagte Walpurgis.

„Aber wie kann ich schlafen, wenn mein Kind bald kommt?“

„Keine Angst, du wirst nichts verpassen.“ Die alte Frau stellte einen Stuhl neben das Bett. „Ich bleibe hier.“

Mit aller Kraft versuchte Cornelia, die Augen offenzuhalten. Doch die Schmerzen der letzten Stunden hatte sie so erschöpft, dass sie in einen unruhigen Schlummer fiel. All das, was sie selbst den Frauen bei der Geburt riet, schien plötzlich seine Bedeutung verloren zu haben. Sie wollte nur noch eins: endlich ihr Kind im Arm halten.

Johannes hatte seinen Sitzplatz verlassen. Nervös lief er vor dem Haus hin und her. Aus dem geöffneten Fenster der Schlafstube war kein Laut zu hören. Schlief Cornelia? Hatte sie sich möglicherweise geirrt und das Kind wollte noch gar nicht kommen? Oder war sie am Ende gar…? Der Mann merkte nicht, wie seine Lippen wie von selbst ein Gebet murmelten. „Hilf uns, unserem Kind immer gute Eltern zu sein und es zu einem anständigen, rechtschaffenen Menschen zu erziehen.“

„Gott zum Gruße, Meister Johannes!“

„Berthold! Gott zum Gruße!“

Der Nachtwächter hob seine Laterne und leuchtete Johannes ins Gesicht. „Warum treibt Ihr Euch zu dieser Zeit draußen herum?“

„Mein Eheweib bekommt unser Kind.“

„Oh! Nun, wenn das so ist, so kann ich Euch aus Erfahrung raten, dass es keinen Grund gibt, aufgeregt zu sein.“

Johannes grinste. Der Nachtwächter hatte zwölf Kinder, von denen nur zwei Ähnlichkeit mit ihm hatten. Aber Berthold war das egal. „Ich sehe bei meiner nächsten Runde wieder nach Euch.“ Die schlurfenden Schritte wurden leiser, der Schein der Laterne verschwand zwischen den Häusern.

Johannes dachte an seine Kindheit. Vater und Mutter hatte er nicht gekannt. Eines Abends im Oktober hatte vor dem Waisenhaus ein Korb gestanden, in dem er lag. Zusammen mit einem Dutzend Jungen wuchs Johannes in der Enge dieser Anstalt auf. Freundliche Worte gab es nie, dafür Schläge aus dem geringsten Anlass. Als Johannes etwa acht Jahre alt war, brach in Gronitz Scharlach aus. Härlinger wurde ins Waisenhaus gerufen. Verwundert und zugleich tief beeindruckt sah er, wie ein kleiner Junge den Kranken half. Er gab ihnen zu trinken, legte kühle Tücher auf fieberheiße Gesichter und spendete Trost und Ablenkung, indem er sich zu ihnen setzte und Geschichten erzählte. Der Arzt nahm den Jungen mit in sein Haus und begann, ihn zusammen mit seiner Tochter in Kräuterkunde und Heilkunst zu unterrichten.

Kurz sah Johannes auf, als sich sein Schwiegervater neben ihn setzte. Die trunkenen Stimmen der letzten Gäste aus dem „Ratskeller“ verklangen in der Ferne. Kein Geräusch außer dem Plätschern des Brunnenwassers war nichts zu hören. Die beiden Männer sprachen kein Wort. Die Luft war spannungsgeladen wie vor einem Gewitter. Unendlich langsam verstrich die Zeit.

Walpurgis schloss das Fenster. Die Kerzen waren heruntergebrannt. Am Himmel zeigten sich die ersten Streifen des neuen Sommertages.

„Du hast es gleich geschafft!“

Erschöpft fiel Cornelia in die Kissen. „Ich kann nicht mehr!“

„Doch, du kannst! Du bist eine starke Frau.“

Der Schrei war durch das geschlossene Fenster zu hören.

Schwiegersohn und Schwiegervater sahen sich an. „Cornelia!“ Zeitgleich rannten sie los, fest entschlossen, sich diesmal nicht von Walpurgis vertreiben zu lassen.

Der zweite Schrei war um vieles lauter als der erste. Johannes riss die Haustür auf, stürmte die Treppe hinauf und in die Schlafstube. Walpurgis drehte sich um. In den Armen hielt sie ein weißes Bündel. „Ihr kommt im rechten Augenblick, Johannes. Darf ich vorstellen: Eure Tochter.“

Zögernd trat der Mann näher. Das kleine Gesicht war von der Anstrengung gerötet, die winzigen Händchen zu Fäusten geballt. „Sie ist wunderschön“, flüsterte der Mann mit Tränen in den Augen. „So schön wie ihre Mutter.“

Behutsam half er Cornelia, sich im Bett aufzusetzen. Walpurgis legte ihr das Kind in die Arme und schlich hinaus. Dieser erste Augenblick gehörte nur der kleinen Familie.

„Geht jetzt nicht hinein“, schnauzte sie Härlinger an, der eben die Stube betreten wollte.

„Aber ich muss sehen, ob es Cornelia und meinem Enkelkind gut geht. Schließlich bin ich Arzt.“

„Na und?“ gab Walpurgis unbeeindruckt zurück. „Ich kann dem Arzt versichern, dass beide wohlauf sind. Und dem Großvater darf ich verraten, dass er eine wunderschöne Enkeltochter hat.“ Walpurgis gähnte ungeniert. „Zeigt mir, wo ich schlafen kann.“

Härlinger brachte die Hebamme in seine Studierstube, wo er zusammen mit Johannes ein Bett aufgestellt hatte. „Ein wunderschönes Enkelkind habt Ihr“, murmelte Walpurgis noch einmal, schon halb im Schlaf. „Weckt mich, wenn etwas Ungewöhnliches passiert.“

Den letzten Satz hatte der frischgebackene Großvater schon nicht mehr gehört. Zwei Stufen auf einmal nehmend, rannte er nach oben.

„Vater!“ Cornelia saß im Bett. Die Kleine lag an ihrer Brust und trank. „Eure Enkeltochter!“

„Ein Wunder!“ sagte er rau. „Ein Mensch ist immer ein Wunder. Wie ich sehe, hat die Kleine die Schönheit ihrer Mutter geerbt. Johannes, du bist ein wahrer Glückspilz, dich mit so viel Anmut umgeben zu dürfen.“

Das kleine Mädchen war satt. Vorsichtig legte es der junge Vater in die Wiege, die neben dem Bett stand.

„Marie“, flüsterte Cornelia. „Unsere Tochter soll Marie heißen wie meine Mutter.“

Johannes nickt zustimmend. „Ja, das soll sie. Auch wenn ich deine Mutter nie kennenlernen durfte, so bin ich überzeugt, dass sie unsere Freude mit uns teilen würde.“

„Das hast du sehr schön gesagt“, brummte Härlinger. „Doch jetzt lasst uns ausruhen. Die Nacht war lang und anstrengend.“

Johannes streckte sich neben Cornelia aus. Zärtlich sah er sein Weib an. Nie war sie ihm schöner vorgekommen als in dieser Stunde, das Gesicht noch von den Anstrengungen der Geburt gekennzeichnet und doch voller Freude und Stolz.

Auf dem Markt begann das morgendliche Treiben.

Härlingers Müdigkeit war plötzlich verflogen. Mit einem breiten Lächeln lief er hinaus, um den Gronitzern die Geburt seiner Enkel-tochter mitzuteilen.

*

Nebel lag über dem Flussbett der Welster wie eine dicke Decke und drückte sich in die Gassen. Die Häuser waren nur schemenhaft zu erkennen. Ab und zu leuchtete die Laterne des Nachtwächters auf, der seine letzte Runde drehte.

Allmählich erwachte in Gronitz der Tag. Ein Ofen nach dem anderen wurde angezündet, um die Morgensuppe zu kochen oder Brot zu backen. In den Webstühlen flogen die Schiffchen hin und her. Die Färber gossen heißes Wasser in große Bottiche und legten die noch weißen Stoffe in die Farben.

Bald klang auch das Hämmern und Sägen von Zimmerleuten über den Marktplatz. Lorenz hatte nach langem Ringen mit sich selbst beschlossen, ein Haus errichten zu lassen, wie es in Gronitz noch keines gab. Die Fassade sollte reich mit Simsen, Putten und anderen Bildhauerarbeiten verziert werden. Die Patienten würden ihm in Scharen die Apotheke im Erdgeschoss des Prachtbaus einrennen. Dann müsste die hochmütige Cornelia einsehen, dass sie einen großen Fehler begangen hatte, als sie ihn abwies und stattdessen diesen Johannes zum Manne nahm.

Um die zehnte Stunde herum brach die Sonne durch die Wolken und begann den Nebel aufzulösen. Vom Schloss klang das aufgeregte Bellen der Jagdhunde des Fürsten, begleitet vom Wiehern der Pferde. Kurze Zeit später klapperten Hufe über das Kopfsteinpflaster der Gassen. Lorenz rannte vor seine Apotheke in der Brückengasse und verbeugte sich so tief, dass man fürchten musste, er würde in der Mitte durchbrechen. An der Spitze der Jagdgesellschaft ritten der Fürst und der Bischof. Während Letzterer mit aller Pracht und Eleganz ausgestattet war, ähnelte Fürst Orlando eher einem Förster. Die Gesellschaft trabte durch das Stadttor und verschwand in Richtung Wald.

„Ich sehe nach meinem neuen Haus“, rief Lorenz seinem Gehilfen zu.

Vom Marktplatz war kein mehr Hämmern mehr zu hören. Auf der Stirn des Apothekers bildete sich eine Zornesfalte. Diese Hals-abschneider von Handwerkern zogen ihm Taler um Taler aus der Tasche und dachten offenbar nicht einmal im Traum daran, ihre Arbeit zu machen.

Auf dem Gerüst standen Gottlieb und Ernst. Grinsend beobachteten sie die Frauen, die am Brunnen Wasser holten. Ernst warf Selma eine Kusshand zu.

„Immer noch verliebt?“ neckte Gottlieb seinen Kumpel.

Der nickte. „Ja. Selma ist für mich die Frau, mit der ich alt werden möchte und…“ Ernst unterbrach sich und zeigte nach unten. „Dort kommt Lorenz.“

„Guten Morgen, Herr!“ rief Gottlieb. „Ist es nicht ein herrlicher Morgen? Selbst der Fürst wird Euch um diesen Prachtbau beneiden.“

„Dieser Prachtbau wird nicht fertig, wenn Ihr nur herumsteht und Maulaffen feilhaltet!“

„Aber Herr, seht Ihr denn nicht, dass wir bei der Arbeit sind?“ Zum Beweis hob Ernst einen Balken ein Stück an.

„Kann gut sehen“, gab Lorenz zurück. „Aber ich kann auch gut hören. Als ich vorhin durch die Gasse von meiner Apotheke hierherlief, hörte ich keinerlei Hämmern. Halten Euch die Weiber-röcke mal wieder von der Arbeit ab?“

„Ganz gewiss nicht, Herr. Ernst und ich sprachen darüber, dass wir in ein paar Tagen fertig sind und das Dach dann gedeckt werden kann.“ Frech grinste Gottlieb dem Bauherrn ins Gesicht. Er konnte den eingebildeten Mann nicht ausstehen. Aber Gottlieb hatte zu Hause fünf hungrige Mäuler zu stopfen. Ein sechstes war unterwegs.

„Ja, ja.“ Lorenz hatte sich beruhigt. „Macht eure Arbeit! Ich bezahle euch nicht fürs Herumstehen.“

„Sehr wohl, Herr.“ Die beiden Zimmermänner verbeugten sich oben auf dem Gerüst tief vor dem Apotheker. Der winkte noch schlechter gelaunt als vorher ab und eilte zurück in die Brückengasse.

Ernst nahm die Säge in die Hand. Genau in diesem Moment geschah das Unglück. Alles passierte so schnell, dass hinterher niemand mehr sagen konnte, wie es sich tatsächlich zugetragen hatte. Die Frauen kreischten laut und rannten panisch umher. Ein mit Fässern hoch beladener Wagen fuhr in einem wahnsinnigen Tempo quer über den Platz. Der Kutscher war nicht zu sehen. Die beiden Pferde wieherten schrill. Vor den Mäulern der Tiere stand Schaum. Die Fässer schwankten auf dem Wagen hin und her. Gottlieb und Ernst standen auf dem Gerüst und beugten sich weit vor, um nichts zu verpassen. Der Wagen raste direkt auf die Baustelle zu. Dabei streifte das rechte Hinterrad das Gerüst. Die hölzerne Konstruktion geriet gefährlich ins Schwanken. Instinktiv griff Gottlieb nach dem Balken, den er vorhin in den Träger eingesetzt hatte und klammerte sich daran fest. Krachend brach das Gerüst zusammen. Ernst stürzte aus mehr als sechs Metern Höhe auf das Kopfsteinpflaster. Regungslos blieb er liegen.

Selma ließ ihren Wassereimer fallen. „Ernst!“ schrie sie. „Ernst!“

Von allen Seiten kamen die Gronitzer zu der Unglücksstelle gerannt. „Holt den Arzt!“ rief Gerhard, ein Obsthändler, der Äpfel und Birnen verkaufte.

Selma kniete neben dem Bewusstlosen und streichelte sein Gesicht. „Ernst“, flüsterte sie, „mein Ernst.“

Zwei Männer hatten eine lange Leiter an die Fassade des Neubaus gelehnt und halfen Gottlieb herunter.

„Dem Himmel sei Dank, dass dir nichts passiert ist.“ Gottliebs Frau fiel ihrem Mann um den Hals.

„Alles gut“, brummte der. „Lass mich los. Ich will nach dem Ernst sehen.“

Der hatte inzwischen das Bewusstsein wiedererlangt. „Meine Beine“, sagte er leise. „Selma, ich kann meine Beine nicht bewegen.“

„Nicht sprechen. Der Arzt wird gleich hier sein.“

„Härlinger?“

„Ja.“

„Das ist gut“, murmelte Ernst und schloss erleichtert die Augen. „Meister Härlinger wird mir helfen.“

Wie ein Lauffeuer verbreitete sich die Nachricht von dem Unglück in den Gassen. Sogar Wolfhart war vor die Apotheke geeilt.

Jetzt rannte er zurück zu Lorenz, der in seinem vergitterten Verlass hockte und die Einnahmen zählte. „Ein Unglück ist geschehen“, keuchte der Gehilfe. „Auf dem Marktplatz… Pferde… Euer Haus…“

Verärgert schlug Lorenz die Geldkassette zu. Wenn er etwas hasste, dann waren es Störungen bei seiner Lieblingsbeschäftigung.

„Du stammelst wie ein altes Weib“, schimpfte er. „Drück dich klar und unmissverständlich aus oder lass es bleiben!“

Endlich bekam Wolfhart wieder Luft. „Auf dem Marktplatz ist ein Unglück gesehen“, sagte er. „Einer der Zimmerleute ist von Eurem Haus gestürzt.“

„Was sagst du da?“

„Einer der Zimmerleute ist von Eurem Haus gestürzt.“

„Und deshalb störst du mich?“ In Lorenz kam Wut hoch.

 „Aber Herr…“

„Ich will dir mal was sagen: Ich bezahle die Handwerker dafür, dass sie mein Haus bauen. Alles andere geht mich nichts an. Wenn dieser Zimmermann nicht achtsam war, so ist es ihm gerade recht geschehen.“

„Aber Herr…“

„Geh an deine Arbeit! Die Gläser für die Salben müssen gespült werden!“ Dieser Ton duldete keinen Widerspruch.

„Ja, Herr.“ Mit hängendem Kopf schlich Wolfhart davon.

Lorenz öffnete die Kassette und begann sein Geld noch einmal zu zählen, wobei seine Finger jede einzelne Münze liebkosten.

„Lasst uns durch!“ Härlinger und Johannes bahnten sich einen Weg durch die Schaulustigen, die die Unglücksstelle umstanden. In-zwischen schien sich ganz Gronitz auf dem Marktplatz versammelt zu haben.

„Meister Härlinger!“ murmelte Ernst mit schmerzverzerrtem Gesicht. „Meine Beine! Ich kann meine Beine nicht bewegen!“

„Bleib ganz ruhig, damit ich dich untersuchen kann.“ Der Arzt gab Johannes ein Zeichen. Vorsichtig zogen sie dem Verletzten die Hose aus. Das linke Bein war in einem unnatürlichen Winkel verdreht. Am rechten Schienbein klaffte eine lange Wunde, die stark blutete.

„Werdet Ihr meinem Freund helfen können?“ fragte Gottlieb, der direkt hinter dem Arzt stand und jede Handbewegung genau verfolgte.

„Bitte, Meister Härlinger“, schluchzte Selma. „Ihr müsst Ernst gesund machen. Wir wollen doch heiraten.“

„Keine Angst, das wird wieder“, brummte Härlinger. „Gottlieb!“

„Ja, Meister Härlinger?“

„Lauf zu meiner Tochter und richte ihr aus, sie möge alles für den Verletzten vorbereiten. Und bring die Trage mit.“

Gottlieb nickte und rannte hinüber zu Härlingers Haus.

„Ich muss die Wunde nähen“, erklärte der Arzt. „Dein linkes Bein hingegen ist gebrochen und muss geschient werden. Beides kann ich nur in meiner Praxis.“

„Ich vertraue Euch, Meister Härlinger.“ Ernst schloss die Augen, weil die Schmerzen ihn erneut zu überwältigen drohten.

Endlich brachte Gottlieb die Trage. Vorsichtig legen Härlinger und Johannes den Verletzten darauf. „Ich brauche noch zwei Männer.“

„Ich komme mit!“ Gottlieb packte einen der vier Griffe.

„Ich auch!“

„Selma, ich brauche Männer.“

Die Frau stemmte die Hände in die Hüften und funkelte Härlinger an. „Glaubt Ihr etwa, ich kann meinen Ernst nicht tragen? Ich habe mehr Kraft als manch einer von den Milchbubis, die hier nur herumstehen und gaffen.“

„Lasst Selma helfen“, sagte Ernst leise. „Wenn sie nicht ihren Willen kriegt … Das wollt Ihr nicht erleben, Meister.“

Trotz der angespannten Situation musste der Arzt lächeln. „Also gut, Selma. Bringen wir Ernst endlich in meine Praxis.“

Cornelia stand vor dem Haus. „Es ist alles vorbereitet, Vater.“

„Gut. Lass uns keine Zeit verlieren.“

„Nicht weinen, Weib“, sagte Ernst. „Du wirst sehen, Meister Härlinger macht meine Beine wie neu.“

„Aber nicht, dass du mir am Ende noch davonläufst“, rief die Frau unter Tränen.

„Ihr streitet jetzt schon wie ein altes Ehepaar“, schmunzelte der Arzt. „Selma, geh raus. Bei der Behandlung von deinem Ernst brauche ich meine Ruhe.“

In der nächsten Stunde war außer einem gelegentlichen leisen Stöhnen des Verletzten nichts zu hören.

„Fertig.“ Sorgfältig wusch sich Härlinger die Hände in der Schüssel, die in der Ecke stand. Das gebrochene Bein war mit zwei Holzleisten und breiten Stoffstreifen fest geschient. Die offene Wunde hatte Cornelia genäht. Schon in ein paar Monaten würde außer einer Narbe nichts mehr zu sehen sein.

„Du kannst jetzt hereinkommen, Selma!“

„Ernst! Mein Ernst!“

„Ist ja gut“, murmelte der Verletzte und strich der Frau unbeholfen über den Rücken.

Härlinger räusperte sich. „Selma! Ernst! Ich möchte euch einen Vorschlag machen.“

Zwei Augenpaare sahen den Arzt erwartungsvoll an. Auch Cornelia und Johannes waren überrascht, doch sie ließen sich nichts anmerken.

„Du kannst in den nächsten Wochen nicht laufen geschweige denn, auf einem Gerüst herumklettern“, sagte Härlinger. „Selma kann sich auch nicht um dich kümmern, wenn sie bei Heckel im Gasthof ist. In meinem Hof gibt es einen kleinen Schuppen. Ein Bett steht darin und ein Öfchen. Solange du verletzt bist, magst du hierbleiben bei uns.“

Misstrauisch sah Ernst den Arzt an. „Kein reicher Mann tut etwas, ohne eine Gegenleistung zu verlangen.“

„Ich bin kein reicher Mann“, sagte Härlinger.  „Ich bin nur ein Arzt, der seinen Patienten so gut helfen will, wie es ihm möglich ist.“

Selma überlegte nicht lange. „Meister Härlinger hat recht“, sagte sie. „Hier kannst du in Ruhe gesund werden. Abends bringe ich dir immer etwas zu essen. Wir wollen ja Meister Härlingers Gastfreundschaft nicht ausnutzen.“

„Also gut“, gab Ernst nach. „Ich bleibe. Aber nur so lange, bis ich wieder richtig laufen kann.“

Johannes schob einen Stuhl herein, der statt Beinen hinten zwei große und vorn zwei kleine Räder hatte. Vorsichtig setzten sie Ernst in das seltsame Gefährt. Selma folgte Johannes, der den Stuhl über den Hof hinüber zum Schuppen fuhr.

„Ich wünschte, ich hätte dieses Geschenk der italienischen Ärzte nie benutzen müssen“, sagte Härlinger. „Es wird schwer für Ernst werden. Bleibt sein Bein steif, was trotz aller Sorgfalt zu befürchten ist, kann er nie wieder als Zimmermann arbeiten.“

„Was können wir tun, Vater?“

Härlinger sah seine Tochter lange an. „Medizinisch haben wir alles getan, was möglich ist. Jetzt hilft nur noch beten.“

*

Die Hexenmacher von Gronitz

Paula Rahm-Roth

Paperback

360 Seiten

ISBN-13: 9783755752080

Verlag: Books on Demand

Erscheinungsdatum: 14.12.2021

Sprache: Deutsch

https://www.bod.de/buchshop/die-hexenmacher-von-gronitz-paula-rahm-roth-9783755752080

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